3. Wie kann ein Fürst die Weltherrschaft erlangen?

[43] König Hui von Liang sprach: »Ich gebe mir mit meinem Reiche doch wirklich alle Mühe. Wenn diesseits des gelben Flusses Mißwachs herrscht, so schaffe ich einen Teil der Leute nach der anderen Seite und schaffe Korn nach dieser Seite. Tritt Mißwachs ein in dem Gebiet jenseits des Flusses, handle ich entsprechend. Wenn man die Regierungsmaßregeln der Nachbarstaaten prüft, so findet man keinen Fürsten, der sich soviel Mühe gäbe wie ich. Und doch wird das Volk der Nachbarstaaten nicht weniger und mein Volk nicht mehr. Wie kommt das?«

Mong Dsï erwiderte: »Ihr, o König, liebt den Krieg. Darf ich ein[43] Gleichnis vom Krieg gebrauchen? Wenn die Trommeln wirbeln5 und die Waffen sich kreuzen, und die Krieger werfen ihre Panzer weg, schleppen die Waffen hinter sich her und laufen davon, so läuft der eine vielleicht hundert Schritte weit und bleibt dann stehen, ein anderer läuft fünfzig Schritte weit und bleibt dann stehen. Wenn nun der, der fünfzig Schritte weit gelaufen ist, den anderen, der hundert Schritte gelaufen ist, verlachen wollte, wie wäre das?«

Der König sprach: »Das geht nicht an. Er lief nur eben nicht gerade hundert Schritte weit, aber weggelaufen ist er auch.«

Mong Dsï sprach: »Wenn Ihr, o König, das einseht, so werdet Ihr nicht mehr erwarten, daß Euer Volk zahlreicher werde als das der Nachbarstaaten. Wenn man die Leute6, während sie auf dem Acker zu tun haben, nicht zu anderen Zwecken beansprucht, so gibt es so viel Korn, daß man es gar nicht alles aufessen kann. Wenn es verboten ist, mit engen Netzen in getrübtem Wasser zu fischen, so gibt es so viel Fische und Schildkröten, daß man sie gar nicht alle aufessen kann. Wenn Axt und Beil nur zur bestimmten Zeit in den Wald kommen, so gibt es soviel Holz und Balken, daß man sie gar nicht alle gebrauchen kann. Wenn man das Korn, die Fische und Schildkröten gar nicht alle aufessen kann, wenn man Holz und Balken gar nicht alle aufbrauchen kann, so schafft man, daß das Volk die Lebenden ernährt, die Toten bestattet und keine Unzufriedenheit aufkommt: Wenn die Lebenden ernährt werden, die Toten bestattet werden und keine Unzufriedenheit aufkommt: das ist der Anfang zur Weltherrschaft.

Wenn jeder Hof von fünf Morgen mit Maulbeerbäumen umpflanzt wird, so können sich die Fünfzigjährigen in Seide kleiden. Wenn bei der Zucht der Hühner, Ferkel, Hunde und Schweine die rechte Zeit beobachtet wird, so haben die Siebzigjährigen Fleisch zu essen. Wenn einem Acker von hundert Morgen nicht die zum Anbau nötige Zeit entzogen wird, so braucht eine Familie von mehreren Köpfen nicht Hunger zu leiden. Wenn man dem Unterricht in den Schulen Beachtung schenkt und dafür sorgt, daß auch die Pflicht der Kindesliebe und Brüderlichkeit gelehrt wird, so werden Grauköpfe und Greise auf den Straßen keine Lasten mehr zu schleppen haben. Wenn die Siebziger in Seide gekleidet sind und Fleisch zu essen haben und das junge Volk nicht hungert noch friert, so ist es ausgeschlossen, daß dem Fürsten dennoch die Weltherrschaft[44] nicht zufällt. Wenn aber Hunde und Schweine den Menschen das Brot wegfressen, ohne daß man daran denkt, dem Einhalt zu tun, wenn auf den Landstraßen Leute Hungers sterben, ohne daß man daran denkt, ihnen aufzuhelfen, und man dann noch angesichts des Aussterbens der Bevölkerung sagt: nicht ich bin schuld daran, sondern das schlechte Jahr, so ist das gerade so, als wenn einer einen Menschen totsticht und sagt: nicht ich hab' es getan, sondern das Schwert. Wenn Ihr, o König, nicht mehr die Schuld sucht bei schlechten Jahren, so wird das Volk des ganzen Reichs Euch zuströmen.«

Quelle:
Mong Dsï: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o. Köln 1982, S. 43-45.
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