10. Der Asket

[109] Kuang Dschang34 sprach: »Tschen Dschung Dsï35 ist doch wirklich ein genügsamer Weiser. Er wohnte in Wu Ling. Drei Tage lang hatte er nichts gegessen, seine Ohren waren dick geworden[109] und seine Augen trübe. Am Brunnen stand ein Pflaumenbaum. Die Maden hatten schon die meisten Früchte zerfressen. Da schleppte er sich hin und aß. Dreimal mußte er schlucken, ehe er wieder hören und sehen konnte.«

Mong Dsï sprach: »Ich bin auch der Meinung, daß unter den Gelehrten von Tsi Tschen Dschung Dsï ist wie der Daumen36 unter den Fingern. Dennoch: genügsam kann man ihn nicht nennen. So wie Tschen Dschung Dsï es meint, kann man nur leben, wenn man ein Regenwurm ist. Der Regenwurm frißt verwitterte Dammerde und trinkt in der Tiefe das Grundwasser. Tschen Dschung Dsï bewohnt ein Haus. Ist das von einem strengen Heiligen wie Be I oder von einem Räuber Dschï37 erbaut? Er lebt von Korn. Ist das von einem strengen Heiligen wie Be I oder von einem Räuber Dschï gepflanzt? Das weiß kein Mensch.«

Kuang Dschang sprach: »Was tut das? Er flicht Sandalen, sein Weib spinnt Hanffaden; damit verdienen sie sich ihren Unterhalt.«

Mong Dsï sprach: »Tschen Dschung Dsï stammt aus einem vornehmen Haus in Tsi. Sein Bruder Dai bezog aus der Stadt Go ein Einkommen von 10000 Scheffeln. Weil er dieses Einkommen seines Bruders für unrecht Gut hielt, darum wollte er nichts davon genießen. Weil er seines Bruders Häuser für unrecht Gut hielt, darum wollte er nicht darin wohnen. Er trennte sich von seinem Bruder und verließ seine Mutter und ließ sich in Wu Ling nieder.

Einst kam er heim. Da traf es sich, daß sein Bruder eine lebende Gans zum Geschenk erhielt. Er runzelte die Stirn und sprach: ›Wozu soll der Schnatterer?‹ Am andern Tag schlachtete seine Mutter die Gans und gab sie ihm zu essen. Sein Bruder aber kam dazu und sprach: ›Das ist Fleisch von dem Schnatterer.‹ Sofort ging er hinaus und erbrach sich.

Was ihm die Mutter gab, das aß er nicht; was sein Weib ihm gab, das aß er. In seines Bruders Haus wohnte er nicht, aber in Wu Ling wohnte er. Das ist doch nicht folgerichtig! Tschen Dschung Dsïs Grundsätze lassen sich nur wirklich durchführen, wenn man ein Regenwurm ist.«

Fußnoten

1 Tschen Dai ist der im Verzeichnis von Dschau an elfter Stelle genannte Jünger des Mong.


2 Ein ähnlicher Ausspruch steht im Lun Yü XV, 8.


3 Dschau Giän Dsï war unter dem Herzog Ding Kanzler in Dsin. Über Dschau Giän Dsï vgl. Liä Dsï VIII, 27.


4 Vgl. Schï Ging II, III, 5 v. 6.


5 Ging Tschun wird nicht unter den Jüngern Mongs erwähnt; er war einer der Sophisten der Zeit.


6 Gung-Sun Yän war der Kriegsminister (»Rhinozeroskopf«) zur Zeit des Königs Hui (vgl. I, A, 1), 370-319, derselbe, der in Dschuang Dsï XXV, 4 genannt ist. Dschang J war der berühmte Rivale des Su Tsin in der Zeit der streitenden Reiche. Während Su Tsin den Bund der sechs Staaten unter der Führung von Tschu zusammenbrachte, wußte Dschang J, der in Tsin Minister war, seine Anschläge zu vereiteln und brachte, nachdem er in verschiedenen Staaten Minister gewesen war, einen Bund von fünf Staaten unter der Führung von Tsin zustande, während Su Tsin schon vorher erschlagen worden war. Es handelt sich um Ereignisse der letzten Jahrzehnte des vierten vorchristlichen Jahrhunderts.


7 Der Sinn des Gleichnisses ist klar: Während dem jungen Manne von seinem Vater Selbständigkeit anempfohlen wird, muß das Mädchen in der neuen Familie sich anschmiegen und fügen. Ganz ebenso machten es jene gerühmten Helden, die durch Schlauheit und Schmiegsamkeit von Staat zu Staat sich durchfanden.


8 Dieser Abschnitt über den rechten Mann gehört mit Recht zu den berühmtesten Stücken der chinesischen Literatur. »Das weite Haus der Welt« ist die Liebe, der gerade Weg (wörtlich: die große Straße) ist die Pflicht.


9 Dschou Siau war ein Mann aus We zur Zeit des Königs Siang. Das hier erwähnte Gespräch fällt wohl kurz nach der Audienz des Mong bei König Siang.


10 Die betreffende Überlieferung scheint verloren zu sein.


11 Über Gung-Ming I ist nichts Näheres bekannt.


12 Das Zitat findet sich so in Li Gi nicht.


13 Es handelt sich hier um die Felder, die den Rittern bei ihrem Eintritt in den Dienst zugewiesen wurden, um davon die Opfer für ihre Ahnen zu bestreiten (vgl. III, A, 3). Konnten sie in Ermangelung dieses Einkommens nicht opfern, so war der ganze Gang des Lebens unterbrochen, daher Grund zum Beileid.


14 Pong Gong wird unter den Jüngern des Mong als zwölfter genannt.


15 Wan Dschang ist der dreizehnte unter Mongs Jüngern, später noch viel genannt.


16 Sung lag zwischen Tschu und Lu; die Nachkommen der Schangdynastie hatten den Staat als Lehen. Das Gespräch muß wohl in das Jahr 311 fallen, in dem sich Mong in Sung aufhielt. Der König, um den es sich handelte, ist der König Kang (Yän), der seit 318 den Königstitel sich beigelegt hatte. Es besteht eine bemerkenswerte Dissonanz in der Beurteilung seiner Persönlichkeit zwischen Wan Dschang hier und Sï-Ma Tsiän. In Sï-Ma Tsiäns Werk wird er als Tyrann schlimmster Sorte in der Art von Giä und Dschou Sin geschildert, der den Zorn der ganzen Welt und die gerechte Strafe auf sich herabgezogen habe. Hier wird er als von gutem Willen beseelt, aber vom Neid der Nachbarstaaten verfolgt, dargestellt. Offenbar muß man eine Entwicklung zum Schlimmen infolge von Verbitterung annehmen. Er hatte viel zu leiden unter den Angriffen der Nachbarstaaten und scheint gegen Ende seines Lebens in eine Art Cäsarenwahnsinn verfallen zu sein. Das war aber lange nach der hier erwähnten Zeit. Mong Dsï scheint ihn jedoch besser durchschaut zu haben als Wan Dschang. Übrigens muß erwähnt werden, daß auch in Liä Dsï II, 21 und Dschuang Dsï XXVII, 18 der König von Sung als Wüterich erscheint.


17 Hier ist die ausführliche Erzählung der in I, B, 9 erwähnten Vorgänge gegeben.


18 Dunkel (blau) ist die Farbe des Himmels, gelb die der Erde.


19 Hier haben wir wohl den Mann vor uns, der zunächst versuchte, den König von Sung auf gute Bahnen zu bringen, was dann später mißlang. Süo Gü Dschou war ein gleichgesinnter Minister, der aus Süo stammte.


20 Über den Jünger Gung-Sun Tschou (den zweiten in der Reihe) vgl. Buch II, A, 1 ff.


21 Duan-Gan Mu stammte aus Dsin. Er war arm und ging bei dem Konfuziusjünger Dsï Hia in die Lehre. Ebenso wie Tiän Dsï Fang, der Lehrer des Dschuang Dsï, ließ er sich in We nieder. Seine hier erzählte Handlungsweise erinnert lebhaft an seinen jüngeren Zeitgenossen Dschuang Dsï. Der Fürst Wen von We (425-387) hörte übrigens nicht auf, den Duan-Gan Mu ehrerbietig zu behandeln, und schließlich gelang es ihm auch, Zutritt bei ihm zu finden. Dadurch steigerte sich sein Ruhm als guter Fürst so sehr, daß Tsin ihn nicht anzugreifen wagte.


22 Über Siä Liu ist weniges bekannt. Er lebte in Lu zur Zeit des Fürsten Mu (409-377), von dem II, B, 11 erzählt ist, daß er die Weisen schätzte.


23 Vgl. Lun Yü XVII, 1.


24 Dsï Lu = Dschung Yu, bekannter Jünger des Kung.


25 Dai Ying Dschï war Minister in Sung.


26 Gung-Du Dsï wird als vierter unter Mongs Schülern genannt.


27 Dschau Ki gibt für die Stelle eine außerkanonische Schu-Ging-Stelle an. In I, III, 11 ist wenigstens die Sintflut erwähnt.


28 Es ist beachtenswert, daß Giä, der Tyrann am Schluß der Hiadynastie, nicht genannt ist, sondern Dschou Sin direkt anschließt. Es sieht fast so aus, als folge Mong hier einer anderen Überlieferung als III, A, 4, zu welcher Stelle hier eine Parallele vorliegt.


29 Yän lag angeblich im Osten des Staates Lu.


30 Fe Liän ist ein sagenhafter Minister des Tyrannen Dschou Sin.


31 Auch diese Stelle findet sich im kanonischen Schu Ging nicht.


32 So nach Dschau Ki. Andererseits wird die Stelle aufgefaßt: »Die Frühlings- und Herbstannalen enthalten Angelegenheiten des Himmelssohnes«, wobei vorausgesetzt wird, daß der Staat Lu, dessen Geschichte während der Jahre 721-479 die Frühlings- und Herbstannalen behandeln, durch den Fürsten von Dschou mit dem Kaiserhaus verbunden sei. Die Vorstellung, daß Kung als »ungekrönter König« hier über die Welt zu Gericht gesessen, wird von diesem Standpunkt aus – im Sinne Kungs sicher mit allem Recht – abgelehnt. Das angeführte Wort des Kung findet sich nicht in den Lun Yü.


33 Die Lehren Yang Dschus sind in Liä Dsï erhalten. Mong Dsï wirft ihm Anarchismus vor; nicht ohne Berechtigung, da bei seinem individualistischen Pessimismus natürlich kein Raum für die Verehrung des Fürsten war. Mo Di, der Lehrer der allgemeinen Menschenliebe, war im Gegensatz zu Yang Dschu politisch interessiert. Er nahm den Großen Yü für sich in Anspruch. Da er die konfuzianische Gliederung der menschlichen Gesellschaft verwirft, nennt ihn Mong einen vaterlosen Gesellen. Mong legt den größten Wert auf die Organisation der Gesellschaftsstruktur, die durch Mo Di gefährdet schien.


34 Kuang Dschang ist ein Mann aus Tsi, aus der Umgebung des Königs Süan.


35 Tschen Dschung Dsï, aus vornehmem Geschlecht von Tsi, lebte in Wu Ling von der Welt zurückgezogen. Er erinnert in seinem Gebaren an die bei Dschuang Dsï erwähnte Richtung des Schen Dau (vgl. Dschuang Dsï, S. 20) oder an den »gerechten« Wanderer Huan Schong Mu bei Liä Dsï (VIII, 20).


36 Der Daumen heißt auf Chinesisch: der große Finger.


37 Über den »Räuber Sohle« vgl. Dschuang Dsï, Buch VIII, S. 106, wo er ebenfalls mit Be-I, dem uneigennützigen Prinzen von Gu Dschu, als Gegensatz zusammengestellt ist – allerdings, um ebenso wie jener verworfen zu werden. Hier ist der Sinn: »Bei der Befriedigung der Lebensbedürfnisse darf man nicht zu genau sein mit Beziehung auf die Herkunft.«

Quelle:
Mong Dsï: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o. Köln 1982, S. 109-110.
Lizenz:

Buchempfehlung

L'Arronge, Adolph

Hasemann's Töchter. Volksstück in 4 Akten

Hasemann's Töchter. Volksstück in 4 Akten

Als leichte Unterhaltung verhohlene Gesellschaftskritik

78 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon