Erstes Capitel.

Einleitende Bemerkungen.

[435] §. 1. Beweistheorien und Methodenlehren sind nicht a priori zu construiren. Die Gesetze unserer Vernunft werden, wie die eines jeden anderen natürlichen Agens, nur dadurch erkannt, dass man das Agens in Thätigkeit sieht. Was die Wissenschaft früher vollbracht hat, geschah ohne eine jede bewusste Beobachtung einer wissenschaftlichen Methode, und wir würden niemals erkannt haben, durch welches Verfahren die Wahrheit zu bestimmen ist, wenn wir nicht vorher viele Wahrheiten bestimmt hätten. Aber nur die frühesten Probleme konnten auf die letztere Weise gelöst werden; als der natürliche Scharfsinn seine Stärke an den schwierigeren Aufgaben versuchte, so that er es ohne Erfolg, oder wenn es ihm hier und da gelang, eine Lösung zu finden, so besass er keine sicheren Mittel, um Andere zu überzeugen, dass seine Lösung richtig war. Bei wissenschaftlichen Forschungen, wie bei allen anderen Werken der menschlichen Geschicklichkeit, sehen höhere Geister in manchen verhältnissmässig einfachen Fällen das Mittel zum Zweck gleichsam instinctmässig, und passen es alsdann durch eine verständige Generalisation einer Menge von complexen Fällen an. Wir lernen ein Ding unter schwierigen Umständen thun, wenn wir auf die Art und Weise Acht haben, in welcher wir dasselbe Ding unter leichteren Umständen gethan haben.

Diese Wahrheit wird durch die Geschichte der verschiedenen Zweige des Wissens, welche den Charakter von Wissenschaften in der aufsteigenden Ordnung ihrer Complication annahmen, dargethan, und wird ohne Zweifel eine neue Bestätigung von denjenigen Zweigen erhalten, deren endliche Constituirung zur Wissenschaft[435] noch zu erwarten steht, die aber bis jetzt immer noch der Ungewissheit vager und populärer Erörterungen überlassen sind. Verschiedene Wissenschaften sind zwar aus diesem Stadium in einer verhältnissmässig jungen Zeit herausgetreten, aber diejenigen, welche sieh auf den verwickeltsten und schwierigsten Gegenstand des Studiums, womit sich der menschliche Geist befassen kann, nämlich auf den Menschen selbst beziehen, blieben noch darin zurück. In Betreff der physischen Natur des Menschen als eines organisirten Wesens – wenn auch in dieser Beziehung immer noch viel Ungewissheit und Streit herrscht und nur dadurch zu beseitigen ist, dass man sich allgemein zu strengeren inductiven Regeln bekennt, als gewöhnlich geschieht – hat man indessen eine beträchtliche Anzahl von Wahrheiten gewonnen, welche von allen, welche dem Gegenstand ihre Aufmerksamkeit zuwandten, als völlig begründet angesehen werden; auch liegt in der Methode, welche die ausgezeichneteren Pfleger dieses Zweiges der Wissenschaft gegenwärtig beobachten, keine radicale Unvollkommenheit. Aber die Gesetze des Geistes und in einem noch höheren Grade die der Gesellschaft sind soweit entfernt, in gleicher Weise auch nur theilweise erkannt zu sein, dass man immer noch darüber streitet, ob sie überhaupt jemals Gegenstand der Wissenschaft im strengeren Sinne des Wortes werden können; und unter denjenigen, welche über den letzteren Punkt einverstanden sind, herrscht in Betreff fast eines jeden anderen Punktes eine unvereinbare Meinungsverschiedenheit. Wenn irgendwo, so sollte man erwarten, dass hier die in den vorhergehenden Büchern aufgestellten Grundsätze nützlich sein könnten.

Wenn in Betreff der bei weitem wichtigsten Dinge, womit sich der menschliche Geist beschäftigen kann, eine allgemeinere Uebereinstimmung unter den Denkern jemals stattfinden soll; wenn das, was man »das eigentliche Studium der Menschheit« genannt hat, nicht bestimmt ist, der einzige Gegenstand zu bleiben, den von Empirie zu befreien der Philosophie nicht gelingen will, so muss dasselbe Verfahren, durch welches die Gesetze vieler einfachen Erscheinungen, wie allgemein anerkannt, ausser aller Frage gestellt wurden, in diesen schwierigeren Untersuchungen mit Bewusstsein und. Bedacht angewandt werden. Wenn einige Gegenstände[436] Resultate ergaben, denen zuletzt alle auf den Beweis Achtenden einstimmig beistimmten; wenn man in Beziehung auf andere weniger glücklich war und die scharfsinnigsten Geister sich von der frühesten Zeit an mit denselben beschäftigten, ohne dass es ihnen gelungen wäre, ein ansehnliches, gegen Zweifel und Einwürfe gesichertes System von Wahrheiten zu begründen: so dürfen wir diesen Fleck vom Antlitz der Wissenschaft dadurch zu entfernen hoffen, dass wir die bei den ersteren Untersuchungen so glücklich befolgten Methoden verallgemeinern und sie den letzteren anpassen. Die folgenden Capitel sind ein Versuch, die Erreichung dieses höchst wünschenswerthen Zieles zu erleichtern.

§. 2. Wenn ich diesen Versuch unternehme, so habe ich dabei nicht vergessen, wie wenig in einer blossen Abhandlung über Logik in dieser Beziehung geschehen kann, oder wie schwankend und ungenügend alle Vorschriften in Betreff von Methoden nothwendig erscheinen müssen, wenn sie nicht durch Aufstellung eines Systems von Lehren praktisch erläutert werden. Die beste Art zu zeigen, wie die Wissenschaften der Ethik und Politik zu construiren sind, wäre ohne Zweifel, sie zu construiren, eine Aufgabe, welche ich, wie kaum nöthig zu sagen, nicht die Absicht habe zu lösen. Aber wenn auch keine anderen Beispiele vorhanden wären, so Würde das denkwürdige Beispiel von Bacon allein genügen, um zu beweisen, dass es zuweilen möglich und nützlich ist, den Weg zu zeigen, wenn man auch nicht selbst vorbereitet ist, ihn weit zu gehen. Wenn ich aber auch ein mehr versuchen wollte, so wäre dies wenigstens nicht der geeignete Ort dafür.

Was in einem Werke, wie dieses, für die Logik der Geisteswissenschaften geschehen kann, ist dem Wesen nach in den fünf vorhergehenden Büchern geschehen, oder hätte geschehen sollen; das vorliegende Buch kann nur als eine Art Supplement oder als ein Anhang zu diesen Büchern betrachtet werden, indem die auf die moralischen und socialen Wissenschaften anwendbaren Methoden der Forschung bereits beschrieben worden sind, wenn es mir gelungen ist, die Methoden der Wissenschaft im allgemeinen aufzuzählen und zu charakterisiren. Es bleibt indessen noch zu prüfen, welche von diesen Methoden für die verschiedenen Zweige der moralischen[437] Forschung specieller geeignet sind; unter welchen besonderen Vortheilen oder Schwierigkeiten sie in denselben zu gebrauchen sind; wie weit der unbefriedigende Zustand dieser Forschungen einer falschen Wahl der Methoden, wie weit er dem Mangel an Geschick bei der Anwendung richtiger Methoden zur Last fällt, und welcher Erfolg von einer besseren Wahl oder einer sorgsameren Anwendung der dem Falle angemessenen logischen Processe zuletzt erlangt oder gehofft werden kann. Mit anderen Worten, es bleibt zu untersuchen, ob Geisteswissenschaften existiren oder existiren können; auf welchen Grad von Vollkommenheit sie gebracht werden können, und durch welche Wahl oder Anpassung der in dem früheren Theile dieses Werkes dargelegten Methoden dieser Grad von Vollkommenheit zu erreichen ist.

An der Schwelle dieser Untersuchung begegnen wir einem Einwurf, der dem Versuch, die menschliche Handlungsweise als Gegenstand der Wissenschaft zu nehmen, verhängnissvoll werden kann. Sind die Handlungen menschlicher Wesen, wie alle anderen Vorgänge, unveränderlichen Gesetzen unterworfen? Jene Beständigkeit der Verursachung, welche das Fundament einer jeden wissenschaftlichen Theorie successiver Erscheinungen ist, besteht sie wirklich zwischen diesen Handlungen? Es wird dies oft geläugnet, und die Frage sollte der systematischen Vollständigkeit wegen, wenn auch nicht aus sonst einer sehr dringenden praktischen Notwendigkeit, an diesem Orte eine wohl überlegte Antwort erhalten. Wir werden daher diesem Gegenstande ein besonderes Capitel widmen.[438]

Quelle:
John Stuart Mill: System der deduktiven und inductiven Logik. Band 2, Braunschweig 31868, S. 435-439.
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