1. Die Priorität der Seele (pag. 889-899).

[378] Es soll, wie der Reihe nach im Sophisten, Staatsmann, Philebus und Timaeus, die Meinung entwurzelt werden, daß alles Werden bloß auf Natur, Notwendigkeit oder Zufall beruhe. Die letzte Quelle dieser Meinung ist, daß man die Elementarstoffe, welche man die Natur zu nennen gewohnt ist, für das Primäre, Seele und Vernunft für etwas Sekundäres, aus jenen erst Gewordenes ansieht (891 C). Es fragt sich also: welches von beiden, die Seele oder die körperlichen Stoffe, ist die primäre, welches die sekundäre Ursache des Werdens und Vergehens?[378] Gleichbedeutend: welches von beiden ist das Erste der Entstehung nach, und welches von beiden gebietet am meisten über die Veränderungen und wechselnden Anordnungen der Stoffe? Wenn die Seele, so verdient vielmehr sie »Natur« zu heißen, denn damit will man doch das Erste der Entstehung nach bezeichnen (892 C).

Die Beweisführung (893 B) hält sich ganz in bekannten Bahnen. Es existiert nicht bloß Bewegung oder bloß Ruhe, sondern beides. Ruhe und Bewegung setzen einen Raum oder Sitz (chôra, heora wie Phil. und Tim.) voraus (893 C). In Hinsicht der Ortsbeziehung zunächst, dann auch nach andern Rücksichten, sondern sich die mancherlei Arten der Bewegung, deren nicht weniger als zehn hier unterschieden werden. Für den jetzigen Beweis kommt aber nur der Unterschied der Bewegung, die sich auf Andres erstreckt, von der Selbstbewegung in Frage (894 B). Nun ist ersichtlich diese die primäre, jene die sekundäre (D). Nur sie stellt einen wahren Anfang, ein »Prinzip« der Bewegung dar (895 A); gäbe es sie nicht, so könnte überhaupt keine Bewegung entspringen. Nun sagt man von dem, was einen Ursprung der Bewegung in sich hat, daß es lebt (896 C), Leben aber ist gleichbedeutend mit Beseelung; also ist überhaupt der Begriff der Beseelung: Fähigkeit der Selbstbewegung. Mithin ist Seele das Erste dem Werden und der Bewegung nach, der Grund (aitia) oder das Prinzip, der Ursprung (archê) aller Veränderung. Seele waltet auch über den Bewegungen des Himmels, und zwar vernünftige Seele. Das wird (wie im Timaeus und sonst) einfach durch die gesetzliche Ordnung bewiesen, der die Bewegungen des Himmels unterliegen (897 C). Die Einheit des unwandelbar sich gleichen, alle Proportionen genau innehaltenden Kreislaufs des Universums um ein ruhendes Zentrum kann nur dem Walten der Vernunft zugeschrieben werden; vielmehr die Vernunft der Bewegungen besagt diese Einheit der Gesetzesordnung. Weiterhin wird auch den einzelnen Gestirnen eine Seele zugeschrieben; und so ist »alles von Göttern voll« (899 B), obgleich Genaueres darüber, da die Seele unsichtbar ist, sich nicht ausmachen läßt.

Die völlige Übereinstimmung des Grundgedankens dieses Beweises mit dem im Phaedrus geführten (oben S. 81), wo nur noch die weitere Konsequenz der Unsterblichkeit der Seele daraus abgeleitet wurde, bedarf nur der Erinnerung. Welches ist nun hiernach die Priorität der Seele? Was besagt es genau, daß sie[379] Ursache, Prinzip der Bewegung und damit des Werdens und Vergehens und der Veränderung sei? Ursache oder Prinzip im Sinne eines schlechthin Unwandelbaren, wie die Ideen, ist sie jedenfalls nicht, denn sie selbst unterliegt der Veränderung; nur durch die ihr eigentümlichen, inneren Bewegungen (Gedanken, Willensentschlüsse u.s.w., 897 A), als Bewegungen erster Ordnung (prôtourgoi kinêseis), werden die körperlichen als Bewegungen zweiter Ordnung (deuterourgoi) hervorgerufen. Damit ist nebenbei die endgültige Aufstellung der Primär- und Sekundärursachen des Timaeus gegeben. Die Ursache besteht also hier selbst in Bewegungen, sie ist selbst Geschehen, Veränderung, nämlich primäres Geschehen, primäre Veränderung.

Darin liegt eine gewisse Abweichung von früheren Aufstellungen über die Gründe oder die Prinzipien; aber die Abweichung betrifft im Grunde nur den Gebrauch des Wortes Grund oder Prinzip. Diese Ausdrücke wurden sonst, überwiegend wenigstens, auf das Unwandelbare, die Ideen bezogen, während sie hier, wie übrigens nicht ganz selten auch in früheren Schriften, mehr dem Sprachgebrauch der vorsokratischen Naturphilosophie entsprechend, auf das Erste im Gebiete des Werdens oder der Veränderung selbst angewandt werden. Diese Schwankung der Wortbedeutung von »Grund« oder »Prinzip« ist aber sehr natürlich und sozusagen allgemein. Beide Ausdrücke bedeuten an sich nicht mehr als: das Erste, Primäre, als Voraussetzung die Folge Bestimmende; es fragt sich dann erst: in welchem Gebiete das Erste, Voraufgehende? Hier nun bleibt die Betrachtung absichtlich im Gebiete des Werdens stehen und geht absichtlich nicht auf solche Gründe oder Prinzipien zurück, die dem Werden überhaupt logisch vorausliegen. Aber keineswegs sind solche darum ausgeschlossen. Man kann, mit andern Worten, als Grund eines Geschehens das Gesetz nennen, nach dem es geschieht, oder das voraufgehende Geschehen, mit dem es im Gebiete des Geschehens selbst als gesetzmäßige Folge zusammenhängt. In jenem Sinne ist die Idee der Grund, in diesem sind es etwa die Bewegungen der Seele, auf welche, wie PLATO bewiesen zu haben glaubt, die äußeren, körperlichen Bewegungen erst erfolgen. Die eine Behauptung widerstreitet keineswegs der andern. Sonst würde der Phaedrus mit sich selbst in Widerstreit sein, wenn er einerseits die Selbstbewegungen der Seele als Prinzip (indirekt auch als Grund oder Ursache: hothen kinêthenta geiêsetai, 245 E) ansetzt, andrerseits, in demselben Zusammenhang,[380] die über alles Werden erhabenen, schlechthin »seienden« Ideen doch wahrlich als letzte Erklärungsprinzipien, im höchsten Sinne als Grund (in der Metapher des Urbilds, dem die Erscheinungen nachgebildet seien, 250 A B, 251 A) behauptet.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 378-381.
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