A. Einleitendes.

[90] Nach dem leidenschaftlichen Kampf wider die Zustände des öffentlichen Lebens im Gorgias, nach der übermütigen, im ganzen doch entgegenkommenden Kritik der Rhetorik als Kunst im Phaedrus, erwarten wir schon die Rückwendung zur strengen, wissenschaflichen Untersuchung. Wir erwarten besonders, nachdem die Aufgabe der Dialektik im Phaedrus bestimmt gestellt und ihr Wert überschwänglich gepriesen ist, daß nun diese Aufgabe ernstlich in Angriff genommen, daß der neue Begriff der Erkenntnis, der dort aufgestellt, aber keineswegs zulänglich begründet war, in radikaler wissenschaftlicher Erörterung vom rechten Anfang her ein- und durchgeführt wird.

Diesen rechten Anfang der Untersuchung trifft nun wirklich die Grundfrage des Theaetet: Was ist Erkenntnis? Das ist der erste, auffallende Fortschritt, daß, nach so oftmaliger Berührung dieses grundlegendsten aller philosophischen Begriffe, nach so mannigfacher Beleuchtung einzelner Seiten an ihm, endlich seine Definition ausdrücklich zum Thema gestellt und systematisch durchgearbeitet wird. Wie durfte z.B. der Charmides über die Selbsterkenntnis als Erkenntnis der Erkenntnis, wie durfte die ganze Reihe der ersten Schriften über Erwerb und Mitteilbarkeit der Erkenntnis Erörterung anstellen, wie konnte die Gleichsetzung von Tugend und Erkenntnis mit zulänglicher Sicherheit und in gehöriger Einschränkung ausgesprochen werden, bevor ihr Begriff in genauer Begründung ausgemacht und gesichert war? PLATO hätte kein echter Sokratiker, er hätte von der Forderung des Begriffs nicht bis zur letzten Tiefe durchdrungen sein müssen, wenn ihm nicht die Frage nach dem Begriff der Erkenntnis erwachsen wäre aus der nach der Tugend, nachdem einmal Tugend in Erkenntnis bestehen sollte.

Schon darum hat man sich den Theaetet nicht allzu fern den Gesprächen über die Tugend entstanden zu denken; obgleich notwendig nach diesen. Überhaupt aber die ganze Art, wie hier wieder ein einzelner Begriff zum Thema gemacht, und nach einer Reihe vergeblicher Definitionsversuche am Ende die gänzliche Ergebnislosigkeit dieser Versuche ausgesprochen wird, deckt[90] sich so bis in die einzelnen Wendungen mit dem Verfahren der ersten und nur der ersten Schriften, daß man sich billig wundert, wie so manche Forscher, denen sonst für das Gewicht von Stilbeobachtungen dieser Ordnung nicht alles Gefühl abgeht, es über sich bringen, den Theaetet um etwas wie ein Menschenalter von den Gesprächen über die Tugend zu trennen. Allerdings ist bei diesem Verfahren ein Unterschied nicht zu verkennen, ohne den der Theaetet selbst nach dem Gorgias und Phaedrus nicht möglich wäre. Für den, der zu lesen weiß, ist der Theaetet keineswegs ohne positives und in gewissem Sinne abschließendes Ergebnis; man soll es nur nicht in platter Formulierung am Ende suchen. Aber eben bei so unzweifelhaft positiver Meinung hätte PLATO an der äußeren Form der aporetischen Erörterung schwerlich festgehalten, wenn es nicht die bis dahin ihm vorzugsweise geläufige gewesen wäre.

Auch das versteht sich sehr wohl aus der Entwicklung, wie sie bisher nachgewiesen wurde, daß die Untersuchung ganz vom Gegenpol des Gesuchten ausgeht. Denn das besonders war bis dahin unbefriedigend geblieben: der Gegensatz der Erkenntnis wurde nur ganz unbestimmt bezeichnet, bald als Erfahrung (empeiria), bald als der Begründung entbehrendes Dafürhalten oder Vorstellen (doxa), bald als trügerischer Schein (phantasma). Nur beiläufig war, im Phaedrus, die Sinnlichkeit (aisthêsis) genannt und abgewiesen, aber noch in keiner Weise untersucht worden. Der Theaetet nimmt von dieser als der untersten Stufe zur Erkenntnis bestimmt seinen Ausgang und widmet ihr erst ein tief eindringendes Studium; schreitet sodann fort zur zweiten Stufe, der »Vorstellung«, die sich alsbald vertieft zum Urteil; und indem er in diesem die Erkenntnis gründet, trennt er sie aufs schärfste von der »Vorstellung« im gemeinen, dogmatischen Sinne eines Gegebenen, das nachher erkannt werden soll. Während das ganz verworfen wird, verbleibt dagegen der Sinnlichkeit ein scharf begrenzter Anteil am Zustandekommen der Erkenntnis. Noch im Phaedrus war es anders. Da wurde die Sinnlichkeit fast ganz beiseite getan; man müsse hinwegsehen über das Sinnliche, sich allein dem Begriff reiner Vernunft anvertrauen. Nicht minder trat die doxa, ganz nach der Weise der Eleaten, bloß in der abwürdigenden Deutung der grundlosen »Meinung«, im schroffsten Gegensatz zur Vernunftwahrheit auf. Mit der positiven Würdigung der Sinnlichkeit und des Urteils, im ganzen Umfang[91] seiner Funktionen, ist ein erster entscheidender Schritt über die Eleaten hinaus getan, deren Einfluß im Phaedrus noch übermächtig war. Und dieser Schritt ist erstmals im Theaetet vollbracht, denn alle sonstigen, hier überhaupt in Vergleich kommenden Schriften PLATOS fußen darin, wie sich zeigen wird, schon auf seiner Errungenschaft, auch und besonders der Phaedo.

Um so gewichtiger Aufgaben willen durfte und mußte die Frage der Erkenntnis für diesmal ganz gelöst werden von den Problemen, mit denen sie bisher, selbst noch im Phaedrus, allzu eng verquickt geblieben war, den Problemen des Sittlichen; so sicher sie eben aus dem Zusammenhange dieser Probleme hervorgegangen war und ihn auch jetzt nicht etwa überhaupt preisgibt. So stellt der Theaetet die erste rein theoretische Untersuchung PLATOS dar; rein bis auf ein paar mehr episodische Seitenblicke, die man vermissen würde, wenn sie sich nicht fänden, die sich aber als gewollte Abschweifungen schon äußerlich zu erkennen geben, und von denen die Untersuchung bald in rein theoretische Bahn zurücklenkt. Die theoretische Philosophie bleibt dann im Vordergrund bis zum Staat, der in großartiger Einheit die Ergebnisse der ethischen und der theoretischen Schriftenreihe noch einmal zusammenfaßt und gerade durch diese Zusammenfassung noch weiter vertieft; es braucht auf die Idee des Guten als gemeinsames letztes Zentrum, das schon der Gorgias vorahnen ließ, hier nur hingedeutet zu werden. Eine zweite Entwicklungsreihe wird dann wiederum mit der Theorie in strengster Einschränkung beginnen, um erst auf der neu gesicherten theoretischen Grundlage den sittlichen Fragen nochmals eine neue Beleuchtung zuteil werden zu lassen, zu denen ein, man möchte sagen unersättliches Interesse den alten Sokratiker immer wieder zurücktrieb.

Den großen Ernst der wissenschaftlichen Absicht bekundet auch die weit ausgreifende kritische Übersicht über die ganze vorsokratische Forschung nach der Erkenntnis, wie auch über die der Zeitgenossen, namentlich der verschiedenen von SOKRATES ausgegangenen Schulen. Zum ersten Mal finden wir hier eine planmäßige Umschau unter den Leistungen der früheren und gleichzeitigen Philosophen, hinsichtlich dieser einen, in der Tat zentralsten aller philosophischen Fragen; eine Umschau, wie sie PLATO in andrer Weise im Phaedo, und nochmals, auf einem vorgerückten Standpunkt, im Sophisten sich zur Aufgabe stellt. Unter den bisher betrachteten Schriften[92] bietet allenfalls die kritische Übersicht über alle, die »jemals« geschrieben haben, im Phaedrus sich zum Vergleich dar. Aber da handelte es sich nur um die Form der Darstellung mit Absehung vom Inhalt; und da die Darstellungskunst einer wissenschaftlichen Grundlage bis dahin so gut wie ganz entbehrte, so war der Katalog des Geleisteten mit schlichter Aufführung und ziemlich geringschätziger Kennzeichnung der bekannten Häupter, je mit ihren Stichworten, rasch genug abgetan; anders wie hier, wo ernste Leistungen ernste Würdigung fordern durften.

Voran steht, der damaligen Lage der Philosophie entsprechend, die große historische Antithese: HERAKLIT und die Eleaten. Nur im Gefolge HERAKLITS erscheint EMPEDOKLES; im Mittelpunkt der kritischen Erörterungen des ersten Teils steht dagegen PROTAGORAS, diesmal nicht der praktische Pädagog und Soziologe, sondern der ernst zu nehmende Theoretiker, als der er wenigstens in einer Schrift aufgetreten war. Nur indirekt kommt der Pythagoreismus zum Wort; er wird gewissermaßen vertreten durch den Mathematiker THEODORUS und seinen hochbegabten, den Meister fast schon hinter sich lassenden Schüler THEAETET, dessen hier vorgeführtes Problem in engem Zusammenhang mit der Mathematik der Pythagoreer und PLATOS selbst steht.

Aber alle diese Zurückbeziehungen auf ältere Stadien der Philosophie bilden nur den Hintergrund für die sozusagen persönliche Auseinandersetzung mit den Zeitgenossen, unter denen der am weitesten abgeirrte unter den Sokratikern, ANTISTHENES, anscheinend obenan steht. Die allmähliche Enthüllung der Polemik gegen diesen, von SCHLEIERMACHER ab, hat vieles sonst Rätselhafte in diesem Dialog erst aufgehellt. Der Grund, ihn in der Polemik ganz besonders zu bedenken, liegt nicht in der absoluten Bedeutung seiner Theorien, sondern darin, daß er auf dem Boden Athens als unmittelbarer Nebenbuhler und, wie es scheint, doch nicht ganz zu übersehender Gegner PLATO gegenüberstand. Die Schule des ANTISTHENES, deren Bestand und wenn auch nicht übergroße Bedeutung in dieser Zeit auch ISOKRATES Sophistenrede und Helena bezeugt, machte ein so ausführliches Eingehen nötig, zumal nachdem literarische Angriffe des Kynikers auf PLATO selbst, allem Anschein nach, bereits vorausgegangen waren. Und zwar hat man längst vermutet, daß es sich an erster Stelle um die »Wahrheit« betitelte Schrift des ANTISTHENES handelt, dieselbe[93] auf die ISOKRATES im Eingang der Sophistenrede anspielt. Auch das Zurückkommen auf den längst verstorbenen PROTAGORAS, der auch eine »Wahrheit« geschrieben hatte, ist vielleicht dadurch zunächst veranlaßt, daß ANTISTHENES diese Schrift – so scheint es – in wenig sachgemäßer Weise in seiner »Wahrheit« kritisiert hatte. Eine solche Kritik jedenfalls wird von SOKRATES im Theaetet parodiert, dann durch PROTAGORAS selbst, dessen Geist gleichsam zitiert wird, widerlegt, ehe zur ernsten Prüfung der These des Sophisten selbst geschritten wird.

Zugleich aber war dies ausführliche Eingehen auf PROTAGORAS geboten in Rücksicht auf die Lehre eines andern Sokratikers, der in zustimmendem Sinne an ihn anknüpfte und seinen Grundgedanken nur zu noch größerer Feinheit durcharbeitete. Schon SCHLEIERMACHER hat erkannt, dann DÜMMLER und auch ich10 mit neuen Gründen gestützt, danach gegen seine früheren Annahmen auch ZELLER anerkannt, daß es kein andrer als ARISTIPPUS ist, dessen Lehre hier PLATO sorgfältig eingehend und nicht ohne Anerkennung ihrer tieferen Tendenz vorführt und freilich verwirft.

Nimmt man noch hinzu, daß im Beginn des Theaetet der Begründer der megarischen Schule, EUKLIDES, mit seinem Genossen TERPSIO in Person eingeführt wird, daß das kurze Vorgespräch, wie man längst erkannt hat, die Bedeutung einer Widmung der Schrift an die befreundeten Männer hat, so gewinnt der Gedanke SCHLEIERMACHERS ziemlich hohe Wahrscheinlichkeit, daß es der Theaetet auf eine Stellungnahme zu den verschiedenen damals bereits nebeneinander bestehenden Schulen der Sokratiker besonders abgesehen hat. Wie HERAKLIT und PROTAGORAS der kynischen und kyrenaischen Lehre wegen, die beide, obgleich in verschiedenem Sinne, an beide anknüpften, so wäre dann die Lehre der Eleaten vorzugsweise in Rücksicht auf die Megariker herangezogen, die ja diese Lehre fast in Bausch und Bogen übernommen und mit der sokratischen Begriffslehre nicht eben glücklich verknüpft hatten. Allerdings kommt es im Theaetet nicht zu einer eingehenden Kritik der eleatischen Philosophie; sie wird als dringliche Aufgabe bezeichnet, aber auf eine spätere Gelegenheit aufgespart. Auch hatte die megarische Philosophie für PLATO nicht die gleiche Wichtigkeit wie jene andern Richtungen. Was sie Wertvolles enthielt, hatte ungleich tiefer durch SOKRATES und die Eleaten direkt auf ihn gewirkt; irgendwelche neue, über[94] diese hinausführende Anregung aber war aus dieser Lehre, wie es scheint, nicht zu schöpfen.

Daß PLATO auch seinerseits bereits als Schulhaupt dasteht, geht aus dem Gesagten schon hervor, und es wird namentlich bestätigt durch die den Zusammenhang auffallend unterbrechende Episode (172-177), welche, aus dem Tone der rein theoretischen Untersuchung schroff genug heraustretend, auf die persönliche Stellung PLATOS in Athen, auf jüngst erfolgte Angriffe aus den Kreisen der durch den Gorgias und Phaedrus schwer gereizten gerichtlichen Beredsamkeit 11 ersichtlich aus einem bestimmten, leider uns nicht bekannten Anlaß, aber auch allgemein auf die Zustände in ganz Hellas, völlig in der leidenschaftlichen Weise des »Gorgias« grelle Schlaglichter wirft; wobei der um PLATO sich sammelnde Kreis als Chor (Reigen) der Philosophierenden (172 D, 173 BC) deutlich bezeichnet wird.

Von dem allgemeinen Charakter und der Abzweckung der Schrift möchte hiermit befriedigende Rechenschaft gegeben, und dadurch auch schon ihre Möglichkeit in dem von uns angenommenen Zeitpunkt einigermaßen glaublich gemacht sein. So mächtig sie über die bisherigen Schriften, den Phaedrus nicht ausgenommen, hinausschreitet, die Kontinuität der Entwicklung wird durch sie keineswegs unterbrochen. Sie wird gerade dann besonders deutlich, wenn man den Theaetet mit dem Gorgias und Phaedrus genau vergleicht. Die enge Beziehung zwischen Gorgias und Theaetet, die in vieler Hinsicht geradezu als Gegenstücke bezeichnet werden dürfen, hat schon SCHLEIERMACHER mit sicherem Blick erkannt. Aber der Zusammenhang wird nur geschlossener, wenn man den Phaedrus dazwischenstellt. Wie dieser nach negativer Seite, in der Kritik der Redekunst, sich als genaue, ohne Zweifel beabsichtigte Ergänzung zum Gorgias erweist, so bezeichnet er in seiner größten positiven Errungenschaft, der Idee der reinen Erkenntnis, das Thema des Theaetet geradezu voraus. Die kühn hingeworfenen Grundzüge[95] der Ideenlehre fordern unbedingt eine nachfolgende strenge Begründung; eben diese ist es, die der Theaetet in Angriff nimmt. Und wie mit Fingern weisen die schönen Darlegungen der Einleitung des Theaetet über die geistige Geburtshilfskunst des SOKRATES, von denen sogleich zu berichten sein wird, auf den Schluß des Phaedrus zurück. Die fast auf die Spitze getriebene »Mäeutik« des ganzen Dialogs, welche auch die etwas schwierig geratene Disposition erklären hilft, scheint direkt veranlaßt durch die Besinnung auf die natürlichen Grenzen jeder schriftlichen Darstellung philosophischer Gegenstände, wie der Schluß des Phaedrus sie bekundet.

Die drei Schriften Gorgias, Phaedrus, Theaetet können nicht anders als in dieser Folge, und sie können sehr gut in unmittelbarer Folge entstanden sein. Ganz besonders bewährt sich ihre Zusammengehörigkeit durch die Einlage, Theaetet 172 ff., deren sehr auffallender, dennoch von einigen neueren Forschern unbegreiflich verkannter Zusammenhang mit dem Gorgias den minder aufdringlichen, aber nicht minder bestimmt erweislichen mit dem Phaedrus meist hat übersehen lassen. Ganz direkt deuten auf diesen (176 in.) die Worte: harmonian logôn labontos orthôs hymnêsai theôn te kai andrôn eudaimonôn bion alêthê, die ich ausnahmsweise in der Ursprache hersetze, des gehobenen Rhythmus wegen, der so gut zum Inhalt paßt: er spottet der Rhetoren, die nicht vermögen (gleich ihm) »in der Rede Musik anzustimmen würd'gen Hochsang auf der seligen Götter und Menschen wahrhaftes Leben«; womit er auf den »mythischen Hochgesang« der dritten Rede im Phaedrus (s. daselbst 265 C) mit seinem rhythmischen Schwung nicht ohne Stolz hinweist. Fast Satz für Satz lassen sich in der ganzen Episode die Beziehungen zum Gorgias und Phaedrus aufzeigen; es sollte genug sein einmal darauf aufmerksam gemacht zu haben.

Im übrigen kann sich der Beweis für unsere Einordnung des Theaetet nur auf die Sachbeziehungen zwischen ihm und den folgenden Schriften stützen, wovon einiges schon im vorigen Kapitel berührt worden ist, andres im gegenwärtigen zur Sprache kommen wird, das Meiste allerdings dem Fortgang der Darstellung überlassen bleiben muß, namentlich beim Phaedo zu erörtern sein wird. Es wird sich zeigen, daß die entscheidendsten Sachgründe vorliegen, den Theaetet dem Phaedo, damit aber zugleich dem Gastmahl und Staat – denn diese drei Schriften gehören unter sich unweigerlich eng zusammen –[96] voranzustellen, da der Beweisgang des Phaedo von der ersten Einführung der Ideenlehre an die Ergebnisse des Theaetet voraussetzt und weiterführt, ja den Faden da aufnimmt, wo der Theaetet ihn fallen ließ. Als dem Theaetet eng verbunden werden sich die beiden übermütigen Streitschriften Euthydem und Kratylus erweisen. Beide richten sich, wie ein großer Teil des Theaetet selbst, gegen ANTISTHENES ; die »Gigantenschlacht« zwischen ihm und PLATO, von der im Sophisten die Rede, ist, was den Anteil des letzteren betrifft, in diesen drei Werken hauptsächlich beschlossen. Beide, Euthydem und Kratylus, teilen mit dem Theaetet selbst äußerlich die Verkleidung des Gegners in andre und andre Personen, im Kratylus sogar, wie schon einigemale im Theaetet, in die des SOKRATES selbst, da ja auch ANTISTHENES Sokratiker sein wollte und, wie PLATO, durch den Mund des SOKRATES seine eignen Meinungen und nicht zum wenigsten seine polemischen Scherze zum besten gab. Nun erweist sich, daß der Kratylus den Euthydem und beide den Theaetet voraussetzen und so gut wie zitieren, während der Schluß des Kratylus auf den Phaedo vorausweist. So ergibt sich, wenn die inneren sachlichen Beziehungen entscheiden sollen, mit kaum abweislicher Notwendigkeit die Reihenfolge: Theaetet, Euthydem, Kratylus, Phaedo. Über die zeitgeschichtlichen Beziehungen des Theaetet dagegen wie über die Sprach- und Stilkritiken will der Streit und die Verwirrung nicht enden. Ich vermag weder, was die einen, noch, was die andern betrifft, ein ernstes Hindernis für die obige chronologische Ansetzung zu erkennen. Ich habe mich darüber wiederholt geäußert; muß aber die weitere Untersuchung darüber andern überlassen.

Es ist nun der reiche logische Inhalt des Werkes darzulegen, dessen grundlegende Bedeutung für die theoretische Philosophie PLATOS ja allgemein anerkannt wird. Äußerste Kürze ist dabei schon aus der Rücksicht geboten, daß die Übersicht über den etwas verwickelten Aufbau in scharfen Umrissen heraustreten soll. Übrigens ist, wenn man des inneren Planes der Schrift sich einmal bemächtigt hat, der Gedankengang so zwingend und unmittelbar überzeugend, daß es der interpretierenden Dreinrede nur wenig bedürfen wird.

10

Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. III, 347 ff.

11

Ausschließlich um die praktische Beredsamkeit handelt es sich, nach 172 D ff., und nach dem ganzen, klaren Zusammenhang dieser Polemik. Das muß völlig übersehen, wer eine Beziehung, sei es auf ISOKRATES oder andre »Redenschreiber«, insbesondre auf veröffentlichte Lobschriften, die es vor dem Euagoras des ISOKRATES nicht gegeben habe, aus dieser Episode herauslesen will. Das Lob der Ahnen war in Gerichts- und andern öffentlichen Reden längst vor dem Euagoras im Schwange. Auch an literarischen Beispielen fehlt es ja nicht.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 90-97.
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