B. Vorbereitendes über Begriff und Idee.

[97] Was im Phaedrus über die »Unterredungskunde« (Dialektik) ausgemacht war, ist im Theaetet unvergessen, aber es wird weit überschritten. Die Dialektik selbst wird mit diesem Namen nicht genannt; sie verbirgt sich hinter der unbestimmteren, halb ironischen Bezeichnung (161 E) des »ganzen Geschäfts der wissenschaftlichen Unterredung« (SCHLEIERMACHER). So wird (167 E) das Sichunterreden – durchaus im wissenschaftlichen Sinne, SCHLEIERMACHER übersetzt daher diesmal etwas frei, doch sinngemäß: Untersuchung – dem Disputieren gegenübergestellt; dagegen 164 C Philosophie gegen Disputierkunst; also Dialektik gleich Philosophie, wie im Phaedrus.

Von den beiden Grundbestandteilen des dialektischen Verfahrens aber: Einteilung (181 C, 187 C) und Begriffsbestimmung, kommt namentlich die letztere, radikalere von neuem zu so eingehender Behandlung, wie in keiner der folgenden Schriften mehr für nötig erachtet wird; auch das ein Zeichen der relativ frühen Entstehung der Schrift. Die Frage nach dem Begriff der Erkenntnis führt, wie die nach dem Begriff der Tugend im Meno, eine eigene Voruntersuchung über den Sinn des Definierens herbei. Und diese nimmt einen völlig ähnlichen Gang wie dort, um sich freilich alsbald sehr zu vertiefen. THEAETET begeht zuerst den gewöhnlichen Fehler, mit einer Aufzählung zu antworten; er gibt also Vieles, da Eines verlangt war, Mannigfaltiges statt des Einfachen (146 D). Er zählt Gegenstände auf, von denen es Erkenntnis gibt; aber es war nicht gefragt, von welchen Gegenständen es Erkenntnis gebe oder wie viele ihrer seien; wir wollten sie ja nicht zählen, sondern wollten wissen »es selbst, was Erkenntnis«, d.h. als was sie zu definieren ist (E). Wie sollten wir auch etwas davon verstehen, wenn man auf die Frage, was Erkenntnis sei, uns beispielsweise antwortet: die Erkenntnis vom Schuhmachen? – Nachdem nun THEAETET den Sinn der Frage besser gefaßt hat, weiß er schon selbst ein instruktives Beispiel aus seinen mathematischen Forschungen beizubringen, welches in der Tat vorzüglich erläutert, wie nicht bloß eine Vielheit, sondern eine Unendlichkeit von Einzelfällen – es handelt sich am den Begriff der quadratischen und nichtquadratischen Zahlen, der die ganze, unendliche »Zahl« erschöpfend einteilt – im Begriff zur Einheit zusammengeschlossen, unter einen Begriff (eidos) gefaßt, und demgemäß unter eine Erklärung (logos, hier[98] sicher im Sinne der Begriffserklärung, Definition) gebracht wird.

Noch in einem späteren Zusammenhang, der gegen Schluß unsres Berichts zu erläutern sein wird, finden sich scharfbezeichnende Ausdrücke der Begriffseinheit: die »Silbe« stellt gegenüber den »Buchstaben«, d.h. der komplexe Begriff gegenüber seinen einfachen begrifflichen Bestandteilen, »eine Idee«, d.h. (nach dem oben S. 70 Bemerkten) »eine Einheit« dar (203 C); dann: ein »Eidos«, welches eine ihm selbst eigene »Idee« hat (SCHLEIERMACHER: »eine Gattung, welche ihre eigene Wesenheit und Gestalt für sich hat«; ich verstehe: »eine Grundgestalt, welche für sich eine Einheit darstellt«, 203 E); eine unteilbare Einheit (»ein ungeteiltes Wesen«, SCHLEIERMACHER, 205 C); jedes für sich ein Unzusammengesetztes; ein Eingestaltiges, Unteilbares; eins und teillos (205 C – E). Wieder in andrem Zusammenhang (196 in.) werden die reinen Zahlenbegriffe: fünf und sieben, nicht Menschen, sondern die Fünf und Sieben »selbst« – so wie sie in den reinen Zahlsätzen gedacht werden, also im Unterschied von den auf Sinnendinge angewandten Zahlbegriffen – herausgehoben.

Dies letztere Beispiel ist besonders belehrend dafür, was unter dem »es selbst« oder »an sich selbst« bei PLATO zunächst zu verstehen ist. Man kann (vgl. oben S. 71) den Begriff unmittelbar zur Bestimmung eines Gegebenen gebrauchen; man kann andrerseits Beziehungen unter bloßen Begriffen aufsuchen, in reiner Absonderung von aller Anwendung auf irgendwie anders als durch den Begriff selbst Gegebenes, wie es in der ganzen »reinen« Mathematik geschieht. Der so verstandene Begriff ist das »an sich« Seiende, von dem PLATO redet wie von einer eigenen, bloß gedanklichen Existenz. Auch diese Existenz hat ihren guten Sinn. Ein Begriff existiert als Begriff, sofern er im systematischen Zusammenhang der Begriffe zulänglich begründet ist. So reden die Mathematiker von der Existenz der Zahl π oder e, überhaupt des Irrationalen, des Imaginären u.s.f., und denken dabei nicht im entferntesten an ein einzelnes Vorkommen irgendwo oder irgendwann sei es in der Sinnenwelt oder in einer andern Welt hinter oder über dieser oder wie man sonst dies seltsame Ortsverhältnis des Nirgendwo zum Irgendwo zu bezeichnen vorzieht.

Doch gewinnt das »an sich selbst« bei PLATO, gerade vom Theaetet an, die verschärfte Bedeutung des Gegensatzes[99] gegen die grenzenlose Relativität der Erscheinung. In ihr gibt es »kein Eines, an sich Seiendes« (152 D), um so mehr in den reinen Begriffen, durch die auch jene grenzenlose Relativität schließlich im Denken, wenngleich nur eingeschränkter Weise, zu bewältigen sein wird. Doch dies Letzte greift bereits vor; auch im Theaetet tritt diese Seite der Sache noch nicht durchgreifend zu Tage. Wohl aber wird der Gegensatz der absoluten Setzung im reinen Begriff gegen die grenzenlose Relativität des Sinnlichen, wie wir sehen werden, in bemerkenswerter Schärfe und nicht ohne eingehende Begründung gekennzeichnet. Besonders nachdrücklich wird bekräftigt, daß die sittlichen Begriffe eine »Natur« und »Wesenheit ihrer selbst« haben müssen, nicht der grenzenlosen Relativität zum Raube fallen dürfen (172 B). So hat allgemein Philosophie zum Gegenstand »jegliche Natur eines jeden von dem, was ist, in seiner Ganzheit« (174 A). Die Ausdehnung freilich dieser Absolutheit der Begriffe, die man für die Fünf und Sieben gerne zugestehen wird, auf die Natur des Menschen (175 C), menschlicher Glückseligkeit und dergleichen, mag zunächst fraglich erscheinen. Aber hier handelt's sich vorerst um den allgemeinen Sinn dessen, was in dem »an sich« gefordert und in der Forderung gedacht wird. Da aber brauchte auch ein sinnbildlicher Ausdruck wie der der »Musterbilder, welche dastehen in dem was ist.« (SCHLEIERMACHER diesmal nicht gut: in der Welt), des Göttlichen als des Seligsten, des Ungöttlichen als des Elendsten, nicht irrezuführen, als ob an eine andre Existenz dabei gedacht sei als die im Systemzusammenhang der Begriffe, in der wahren Erkenntnis begründet ist. »Es ist«, das besagt ganz schlicht, es ist der Fall, es verhält sich in Wahrheit so, wie ausgesagt wird, z.B., daß das Göttliche (Sittlichkeit als Gottähnlichkeit) das Seligste, das Ungöttliche das Unseligste ist. Es gilt so, nachdem es bewiesen ist: kraft der »eisernen und stählernen Gründe« des Gorgias. Es gilt in der »Idee« selbst, die mit dem »Musterbild« einzig und allein gemeint ist; d.h., es gilt als unwandelbar fester Richtpunkt des Denkens, nicht anders.

In dem allen zusammengenommen ist die Antwort auf die Frage »Was ist Erkenntnis?« fast schon vorweggenommen. Doch ehe wir sie vom rechten Anfang her planmäßig entwickeln, ist noch eine zweite, dasselbe Ergebnis von einer andern Seite aus nahelegende Vorbetrachtung ins Auge zu fassen, die von der mäeutischen Kunst, das heißt[100] der geistigen Geburtshelferkunst, deren sich SOKRATES rühmt. Wir erkennen darin alsbald eine neue, sehr reine Wendung des Motivs der Wiedererinnerung. SOKRATES führt in einem seiner launigsten Vergleiche den Gedanken durch: seine Unterredungskunst bestehe nicht darin, daß er irgend ein fertiges Wissen besitze, um es Andern mitzuteilen, was er ja stets von sich verneint hat; sondern allein darin, daß er dem Andern helfe, die Erkenntnis, deren Lebenskeim er unbewußt in sich trägt, mit der er gleichsam schwanger geht, richtig und kunstgemäß ans Licht der Welt zu fördern, sowie auch nachher seine Geistesfrucht kunstgerecht zu prüfen, ob sie lebenskräftig sei oder etwa eine lebensunfähige Mißgeburt. Das scheint nur eine scherzhafte Bestätigung der ausschließlichen Negativität, der bewußten Unproduktivität der sokratischen Wissenskritik. Aber es liegt doch darin zugleich jene positive Einsicht, durch die PLATO im Meno über diese negative Einseitigkeit der Sokratik hinausgekommen war. Die mit mir umgehen, sagt SOKRATES, pflegen, wenn sie sich erst noch so ungelehrig anstellten, in kurzer Frist erstaunliche Fortschritte zu machen; nicht als ob sie von mir jemals etwas »lernten« (im alten Sinne der äußeren Beibringung), sondern indem sie bei sich selbst viel Schönes finden und es, bloß unter meiner Hilfe, aus sich zur Welt bringen. Das aus dem Meno uns bekannte Vorfinden bei sich selbst, Hervorholen aus dem bereitliegenden Schatz des eignen Bewußtseins wird hier in einem eindringlicheren und bezeichnenderen Bilde zum Gebären, zum selbsttätigen, eigenkräftigen Herausarbeiten, Produzieren. Es ist die Vorausnahme dessen, was auf der Höhe des Dialogs den schlichten, unbildlichen Ausdruck erhält, daß das Bewußtsein die reinen Grundprädikationen »durch sich selbst«, ohne Organ, denkend, urteilend, sich selber fragend und sich selber Antwort gebend, erkennt. Es ist der klare und reine, diesmal von allem Mythischen und Mystischen rein gehaltene Ausdruck der Erkenntnis a priori.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 97-101.
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