D. Der neue Begriff der Erkenntnis.

[111] Womit empfinden wir? Mit Augen, Ohren und so fort. Aber dies »Womit« ist zu unbestimmt. Soll es heißen: die Sinne sind das, wodurch, kraft dessen, oder bloß: durch dessen Vermittlung oder mit Hilfe dessen wir empfinden? Das heißt: sind die vielen Empfindungen in uns eingeschlossen wie die trojanischen Helden im hölzernen Roß, ohne eine gemeinsame Beziehung auf eine gewisse Einheit (auf »eine Idee«), heiße man sie nun psychê (Bewußtsein) oder wie sonst, kraft deren wir, bloß durch Vermittlung jener (der Sinne) das Empfindbare empfinden?

Hiermit ist klar die Bewußtseinseinheit als Grundfunktion der Erkenntnis ausgesprochen. Die Einheit des geistigen Blicks, in der das Mannigfaltige der Sinne zusammengeschaut wird, das ist die »eine Idee«, vor der PLATO schwankt, ob er sie psychê oder wie anders nennen soll. Man muß sich hierbei erinnern, daß psychê sehr oft bei PLATO und überhaupt in der philosophischen Sprache der Griechen als Ersatz für das fehlende Wort eintritt, welches unserm »Bewußtsein« entspräche. Es ist sehr häufig nicht Substanz-, sondern Funktionsbegriff; wie es ja selbst in der gewöhnlichen Sprache ebensowohl[111] Atem, Hauch, Leben, wie jenes halbkörperliche, schattenhafte Etwas bedeutet, das während des Lebens im greifbaren Körper Wohnung genommen hat, im Sterben ausgehaucht wird und in die Schattenwelt von hinnen geht, wenn nicht um Gräber spukt. Hier aber paßt nur ein Funktionsausdruck, da es sein soll »ein Identisches unsrer selbst, kraft dessen wir«, ausdrücklich ohne Organ, aber unter Benutzung der körperlichen Organe, die gedankliche Bestimmung des Sinnlichen leisten.

Daß aber ein solches sein muß, wird so bewiesen. Je durch ein besonderes Organ ließe sich nur je eine besondere Qualität auffassen (jeder sinnliche Unterschied fordert ein eigenes physiologisches Korrelat); dagegen jedwede Bestimmung, die auf das sinnlich Verschiedene in identischer Weise bezogen wird, muß wohl nicht von den sinnlichen Organen abhängen, auf die wir angewiesen sind, um jede der sinnlichen Bestimmtheiten für sich aufzufassen. Zum Beispiel zwei verschiedene Farben müssen durch je ein eigenes sinnliches Organ empfunden werden; die auf beide gemeinsam bezügliche Aussage dagegen, daß sie beide sind, ferner, daß sie jede von der andern verschieden, mit sich aber identisch, daß sie zusammen zwei, jede für sich eine, daß sie der Qualität nach gleich oder ungleich sind, dies auf alle gemeinsam sich Erstreckende, kraft dessen wir aussagen, es ist oder ist nicht das und das – dann substantivisch: Sein und Nichtsein, desgleichen Identität und Verschiedenheit, qualitative Gleichheit und Ungleichheit, Einheit und Zahl, Gerade und Ungerade »und alles was diesem folgt« (d.h. daraus ableitbar ist; hier fände die ganze reine Mathematik, zunächst als Arithmetik, ihre Anknüpfung): mit Hilfe welches Organs sollten wir dies alles auffassen? Antwort: mit keinem eigentümlichen Organ, sondern es ist das Bewußtsein selbst, welches diese »allgemeinen« (auf alles gemeinsam anzuwendenden) Bestimmungen durch sich selbst und nicht mit Hilfe körperlicher Organe auffaßt. Auch die sittlichen Grundprädikate, das Schöne, Gute und deren Gegenteile, gehören dazu, da sie (wie im Laches schon gezeigt war) sich auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen erstrecken.

Es wird noch besonders die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß dies alles Relationsbegriffe sind, die wir nur gewinnen können, indem wir das zeitlich Differente vor dem geistigen Blick gleichermaßen gegenwärtig haben, durchgehen und vergleichend [112] beurteilen. (Hier läge die Konsequenz nahe, die zwar unausgesprochen bleibt: daß auch die zeitliche Bestimmtheit selbst allein aus dem zentralen, in sich nicht zeitlich bestimmten Einheitspunkt des Bewußtseins beurteilt werden kann.) So allein erkennen wir das Sein und Was es ist, und das diesem Entgegengesetzte, sowie das Wesen der Entgegensetzung selbst (Bejahung, Verneinung und Kontradiktion), und so fort. Schließlich werden die Grundprädikate zusammengefaßt unter den zwei Hauptklassen Sein und Wert, ousia und ôphelia, also den beiden großen Gebieten der theoretischen und der praktischen Grundprädikationen. Da nun in diesen alle Möglichkeit des Urteilens, aller bestimmte Sinn der Aussage begründet ist, so gibt es durch sie allein, und nicht durch das sinnliche Erlebnis, ein Sein (im weitesten Sinn des Aussageinhalts); mithin Wahrheit; mithin Erkenntnis.

Die Grundfunktion, auf der demnach die Erkenntnis beruht, die schon im Vorbeigehn als Urteil (krinein) und zwar Relationsurteil (186 B,A) gekennzeichnet war, wird dann noch ausdrücklich als solches festgestellt: Welches ist die Benennung, die das Bewußtsein annimmt, wenn es ganz für sich allein sich mit dem zu tun macht, was ist? Antwort: Urteilen. Denn anders nicht kann hier doxazein übersetzt werden, besonders nach der scharfen Erklärung (189 f.): Daß man ein Andres als Andres und als nicht Dasselbe im Gedanken (dianoia) setzt, das nennt man Denken (dianoeisthai). Und was ist dies? Eine Rede (logos), die das Bewußtsein bei sich selbst durchgeht (discursus) über das, was es gerade in Betracht nimmt. Also ist Denken nichts andres als eine Unterredung, worin es, das Bewußtsein, sich selbst befragt und sich selbst Antwort gibt, Ja sagt oder Nein. Wenn es nun zu einer Festsetzung (Abgrenzung, Bestimmung) gelangt ist, langsamer oder schneller darauf losgehend, und fortan Eins und Dasselbe aussagt, nicht mehr mit sich in Zwiespalt ist, so nennt man das doxa. Diese ist also ein logos, eine Aussage, nicht zu einem Andern mit der Stimme, sondern schweigend bei sich selbst getan.

Damit ist die Erkenntnis auf das Urteil, auf die allgemeine Funktion der »synthetischen Einheit«, die Begriffe auf Grundbegriffe, als Grundarten der Synthesis, als Grundfunktionen des Urteilens, zurückgeführt. Allerdings ist Urteilen noch nicht ohne weiteres Erkennen. Nämlich es müssen auch noch alle gültigen Urteile unter sich in durchgängiger Einheit[113] stehen, sie müssen in einem System von Urteilen, in der »Wissenschaft« sich verknüpfen und in ersten Grundurteilen sich sichern. Darüber werden die logischen Untersuchungen des Phaedo, des Gastmahls und des Staats uns genugsam belehren, die dagegen das hier erreichte erste und entscheidende Ergebnis durchweg voraussetzen. Auch das im Theaetet nur erst skizzierte System der Grundbegriffe wird seine strengere Ausführung und Begründung erst erhalten, indem die hier bloß aufgezählten Grundbegriffe sich entwickeln zu Prädikaten von Grundurteilen, also die Kategorien (kantisch gesprochen) sich zu Grundsätzen vertiefen. Diesen großen Schritt vollbringt der Schlußteil des Phaedo. Das ist der entscheidendste Grund, welcher zwingt den Theaetet dem Phaedo zeitlich voranzustellen. Nicht nur setzt der Phaedo die Ergebnisse des Theaetet deutlich voraus, und zwar, wie wir sehen werden, schon von den ersten auf die Erkenntnisfrage bezüglichen Sätzen an; sondern noch beweisender ist das Umgekehrte, daß die größte, für immer entscheidende Errungenschaft des Phaedo, die Idee als Hypothesis, im Theaetet noch nicht vorausgesetzt wird.

Der Grund dazu ist freilich eben hier gelegt. Sogar schon die letzte Konsequenz, in der der platonische Idealismus sich vollenden wird, drängt sich auf; auch sie wird jedoch nicht ausgesprochen, nicht auch nur angedeutet. Die letzte Korrektur des Relativismus nämlich würde die sein: daß die Relativität selbst verständlich wird als relative Setzung des Denkens. Das Denken vermöchte aber die Relation nicht zu setzen, ohne zugleich die Termini der Relation zu setzen, die, als Denksetzungen, der Forderung der Einheit, der Identität, des »An-sich«, schlechthin entsprechen, in dieser Bedeutung also »absolut« sein müssen. Der Relativismus hatte das ganz Richtige im Sinn, daß nichts Absolutes gegeben ist noch je gegeben sein könnte. Nur ist ebenso wenig die Relation gegeben, sondern sie besteht auch nur Kraft der relativen Setzung im Denken, die aber die absolute Setzung, nämlich der reinen Begriffe, voraussetzt, ja einschließt. Es sind zuletzt die Gesetze der reinen Denkfunktion selbst, die für das Denken freilich bedingungslos gelten müssen; nicht etwas wie Dinge. Diese Formulierung geht über den Theaetet hinaus. Daß sie aber dem letzten Sinn der Ideenlehre entspricht, wird sich besonders im Parmenides und Sophisten erweisen.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 111-114.
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