E. Der Dogmatismus der »wahren Vorstellung«.

[114] Es bleibt jetzt noch der zweite Hauptteil des Dialogs übrig, die Prüfung der These, daß Erkenntnis gleich »wahrer Vorstellung mit Erklärung« sei.

Es heißt im Eingang dieses Teils (187A), es solle alles Vorige »ausgelöscht« sein und wieder ganz von vorn angefangen werden. Das ist buchstäblich zu nehmen: nichts vom bisher Gewonnenen soll gelten. In der Tat sind die soeben erreichten, grundlegenden Festsetzungen für die ganze nun folgende Untersuchung einfach nicht vorhanden. Festgelegt war die doxa im Sinne des Urteils: der Beziehung des Mannigfaltigen der Sinne auf die Einheit des Denkens und zwar durch bestimmte synthetische Grundfunktionen, man darf ruhig sagen: Kategorien. Durch diese wird der Gegenstand (das »Was es ist«) erkannt, das heißt im Denken, für das Denken überhaupt erst gesetzt. Ohne es ist das Gegebene, Sinnliche, bloß ein x, ein schlechthin, in aller Absicht Unbestimmtes, erst zu Bestimmendes. Dieser kritischen Auffassung der Gegenstandserkenntnis, wie man in der strengsten Bedeutung dieses kantischen Terminus sie nennen darf, steht gegenüber die dogmatische, für welche die Gegenstände gegeben werden, zuerst in der Sinneswahrnehmung, dann in deren Nachbild in der Vorstellung, welche sich von außen in die Seele einem Siegel gleich eindrückt. Es kommt dann bloß noch darauf an, daß man diese Vorstellungen auf die Dinge der Wahrnehmung auch richtig bezieht, so wird aus der »richtigen« oder »wahren«, d.h. genau aufgeprägten »Vorstellung« Erkenntnis.

Das ist der kraß dogmatische Sinn der These: Erkenntnis gleich wahrer Vorstellung (mit oder ohne hinzukommende Erklärung), die im zweiten Teil geprüft und ad absurdum geführt wird. Nur stellt sich SOKRATES in gewohnter Schelmerei anfänglich so an, als wolle er die These ganz ernstlich verfechten; als gehe sie wohl gar aus den vorigen Aufstellungen ganz natürlich hervor. Er deutet mit keiner Silbe an, und der allzu treuherzige THEAETET merkt es auch gar nicht, daß damit in der Tat das volle Gegenteil der eben gewonnenen fundamentalen Festsetzungen ausgesprochen ist; daß vor allem der Ausdruck doxa, in dem die neue These mit den vorausgegangenen Aufstellungen scheinbar zusammenhängt, eine gänzlich veränderte Bedeutung angenommen hat Dieser Bedeutungsübergang läßt sich in der Uebersetzung leider gar nicht wiedergeben.[115] Zu klar bedeutete doxa vorher das Urteil, dagegen jetzt die Vorstellung. Es ist im Deutschen kaum möglich, das Wort auch im ersteren Sinn (mit SCHLEIERMACHER u. a.) durch »Vorstellung« wiederzugeben, noch wüßte ich sonst ein Wort, in dem der Unterschied der Begriffe, auf den es hier ankommt, sich auch nur verstecken würde. Es ist etwa das Finden, Befinden, welches im einen Fall »nach Prüfung Entscheiden«, im andern »ungeprüft Hinnehmen« hieße. Es ist, intransitivisch ausgedrückt, der Doppelsinn des Geltens: es gilt, nachdem es begründet ist, oder es gilt dafür, ohne Gründe und ohne Nachfrage nach solchen.

Der Widerspruch tritt gleichsam faustdick zu Tage, wenn nachher die doxa eine Einprägung von außen in die Wachstafel der Seele, oder wenn das Erkennen der wahren Vorstellungen ein Ergreifen, ein Packen von etwas sein soll, das wir schon besaßen, aber nicht hatten; wobei wir manchmal versehentlich die eine wahre Vorstellung statt der andern – oder auch eine falsche statt der richtigen erhaschen, und dergleichen mehr. Wo ist da die »Seele« geblieben, die ohne Organ, »durch sich selbst« den reinen Begriff erdenkt, also mit einer Rezeption von außen nichts gemein haben sollte? Wo ist vollends das hingeraten, daß es überhaupt kein Sein, keine Wahrheit für uns gibt als kraft der Feststellung im rein erzeugten Begriff? Der Dogmatismus ist in jenen Gleichnissen so plump wie nur möglich geschildert, es ist ganz und gar die später stoische »Impression« und »kataleptische«, das Sein ergreifende und zugleich von ihm ergriffene »Phantasie«, die wir vor uns haben. Diese muß also in PLATOS Zeit schon existiert haben; aller Wahrscheinlichkeit nach in der Lehre des ANTISTHENES, auf den fast alle die wunderlichen Figmente der stoischen Erkenntnislehre sich zurückführen lassen. Die »Seele« vor allem ist hier ganz einfach körperlich gedacht, sie hat nicht etwa bloß, sondern ist ein körperliches Organ, bestenfalls Zentralorgan. Damit verliert die Prüfung dieser Thesen für uns ihr direktes Interesse. Die positive Untersuchung ist mit dem »Nachtrag« zum ersten Teil abgeschlossen; was folgt, beansprucht nur die Bedeutung der Gegenprobe, deren Ergebnis, wer richtig gerechnet hat, voraus weiß.

Gleichwohl ist über diesen Teil einiges Wenige zu sagen, schon weil dabei gewisse Fragen wenigstens berührt werden, welche unsern Philosophen auch fernerhin, besonders im[116] Sophisten, sehr ernstlich beschäftigt haben. PLATO widerlegt die These, daß Erkenntnis gleich wahrer Vorstellung sei, hauptsächlich, indem er zeigt, daß unter den Voraussetzungen, auf denen sie fußt, es kein Falschvorstellen, keinen Irrtum geben könnte. Denn wenn es immer ein vorhandenes Wirkliches sein muß, das wir vorstellen – die Vorstellung wird geradezu wie eine auf das vorhandene Wirkliche ausgeübte Handlung vorgestellt –, so wird es überhaupt unmöglich, vorzustellen, was nicht »ist«, das heißt jetzt: nicht dinglich vorhanden ist. Man kann nicht »packen« oder einen Abdruck von dem erhalten, was nicht »ist«. Besonders launig wird dann der Vergleich der Seele mit einem Taubenschlag durchgeführt, in dem wir die wahren Vorstellungen der Gegenstände eingefangen haben, und nur noch irren können, indem wir die eine statt der andern greifen. Wunderlich nur, daß wir Erkenntnisse in der Seele eingefangen haben und doch nicht – erkennen sollen. Oder haben in dem Vogelkäfig unsrer Seele außer den Erkenntnissen unversehens auch – Nichterkenntnisse Wohnung genommen? Dann bedürfte es erst wieder einer zweiten Erkenntnis, um die Erkenntnisse von den Nichterkenntnissen zu unterscheiden, und, da derselbe Grund fortwaltet, weil ja diese Erkenntnis, vom gedachten Standpunkt, wieder auf die gleiche Weise erklärt werden müßte, so bedürfte es einer dritten und vierten, und so ins Unendliche weiter, ohne daß wir über die Erkenntnis um ein Haar klüger würden.

Für PLATO ist es gewiß ein ernsthaftes Problem, wie Irrtum, wie Falschurteilen möglich ist. Im Sophisten namentlich werden wir diesem Problem wieder begegnen. Aber diese Behandlung der Frage wird nur verständlich als übermütige Parodie fremder Thesen, aus der nicht einmal mittelbar für seine eigene Stellung in dieser an sich wohl ernsten, aber in diesen Thesen lächerlich mißverstandenen Frage etwas zu entnehmen ist. Die Interpreten haben es, wie es scheint, bisher durchweg nicht erkannt, wie alle diese Verwirrungen nur die einfache Konsequenz des stillschweigend zu Grunde gelegten, kraß dogmatischen Begriffs der Erkenntnis sind, und sich mit einem Schlage heben, sobald man einmal begriffen hat, daß Sein nichts Gegebenes, sondern für die Erkenntnis erst zu erzeugen ist im Erkennen selbst; wie doch zuvor ausführlich gezeigt war. Hat man diesen Schlüssel einmal in der Hand, so löst sich alles zum Lachen einfach. An einem Punkte hätte doch[117] auch der argloseste Leser stutzig werden müssen: Lehren und Lernen wird (198 A) ganz unbefangen erklärt als Mitteilen und Empfangen von außen. Das war die Meinung des Sophisten PROTAGORAS (Prot. 319 B), die von PLATO schon dort offenbar nicht geteilt, im Meno (93 B D) ausdrücklich und für immer (vgl. z.B. Staat 518 BC) abgelehnt wurde.

Angesichts dieses Sachverhalts scheint es unnötig, die Beweisgänge dieses Teils alle einzeln vorzuführen und im einzelnen zu erklären. Nur einer dieser Beweisgänge bedarf besonderer Erläuterung, weil hier PLATO in nicht sofort durchsichtiger Weise eigene und wichtige Thesen mit den fremden mischt. Eine der verschiedenen Wendungen der dogmatischen Ansicht – in der Tat scheint es sich nur um verschiedene Ausdrücke einer und derselben Grundmeinung zu handeln, die denn wohl auch alle einem einzigen Autor, dem vielschreibenden ANTISTHENES, entlehnt sein werden – lautet so. Die Dinge bestehen aus gewissen letzten Elementen, gleichsam Buchstaben des Seins (stoicheia); von diesen gibt es keine Erklärung (logos); man kann sie nur einzeln nennen, aber gar keine weitere Aussage von ihnen tun, daß sie das und das seien oder nicht seien; nicht einmal »Es« oder »Jenes« oder »Jedes« oder »Es allein« oder »Dieses« darf man von ihnen sagen (eine offenbar parodierende Konsequenz), denn das alles wären schon dem Dinge selbst fremde Prädikate. Dagegen vom Zusammengesetzten gibt es eine Erklärung, eben durch Angabe der Zusammensetzung aus jenen »Buchstaben«. Denn eine Erklärung, ein Satz, ist eine Verknüpfung von Namen. (Eben dies meinen auch die »hundert Hölzer« des Wagens 207 A: Definition durch äußere mechanische Zusammensetzung statt durch Verflechtung von Merkmalen.) Die Elemente, schließt die Theorie weiter, sind demnach gar nicht Gegenstand der Erkenntnis, dagegen sind sie durch Sinneswahrnehmung gegeben (hier der klare Dogmatismus der These); zu erkennen bleibt nur die Zusammensetzung der »Silben« aus den »Buchstaben« des Seins.

Hier scheint dem SOKRATES bedenklich, daß es von den Silben Erkenntnis geben soll, von den Buchstaben nicht. Denn was ist die Silbe? Entweder die Buchstaben, dann ist der Widersinn sofort klar, oder eine eigene, unteilbare Einheit, als welche die Silbe aus den Buchstaben erst hervorgeht. Macht man aber damit Ernst, so wäre ja die Silbe selbst nunmehr ein Einfaches, es würde also von ihr dasselbe gelten[118] müssen wie von den Buchstaben, daß sie, weil einfach, kein Gegenstand der Erkenntnis wäre. Die Erklärung, als das unterscheidende Merkmal der Erkenntnis, sollte ja ein Zerlegen in Stücke sein. Übrigens hat man in allen Disziplinen zu allererst die Elemente zu lernen, beim Lesen die Buchstaben, in der Musik die Töne, und so fort; von diesen hat man deutlichere Erkenntnis als von den Zusammensetzungen. Also stellt sich diese ganze Lehre als ein – unfreiwilliger Scherz dar.

Es braucht nach allem schon Gesagten jetzt nur einfach ausgesprochen zu werden, daß diese »unzerlegliche Einheit« (die weiteren scharfen Ausprägungen dieses Gedankenmotivs sind oben S. 99 schon zusammengestellt worden) auf die platonische Begriffsfunktion zurückweist. So werden die echten »Buchstaben« des »Seins« zu den kategorialen Grundbestimmungen; wie ja auch jene »überall sich herumtreibenden« Bestimmungen Sein und Nichtsein, Es und Jenes, Jedes und so weiter, nur verschiedene Ausdrücke der Bestimmung überhaupt, also der allgemeinen Denkfunktion sind. Aus der Zusammensetzung der Buchstaben zu den Silben aber wird dann die begriffliche Komplexion, für die es wichtig war zu betonen, daß sie nicht tote mechanische Komposition, sondern Schöpfung neuer »unteilbarer« Gedankeneinheiten ist.

Im übrigen enthält dieser ganze zweite Teil, wie gesagt, nur überlegene Kritik fremder Lehrmeinungen, deren Widersprüche, plumpe Zirkel und Vorwegnahmen des zu Beweisenden spielend entwirrt, und damit die groteske Torheit der urdogmatischen Grundmeinung bloßgelegt wird.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 114-119.
Lizenz:

Buchempfehlung

Droste-Hülshoff, Annette von

Ledwina

Ledwina

Im Alter von 13 Jahren begann Annette von Droste-Hülshoff die Arbeit an dieser zarten, sinnlichen Novelle. Mit 28 legt sie sie zur Seite und lässt die Geschichte um Krankheit, Versehrung und Sterblichkeit unvollendet.

48 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon