2. Euthydem.

[119] Geradezu als ergänzender Nachtrag zu dem polemischen Geplänkel, das den zweiten Teil des Theaetet füllt, darf der Euthydem bezeichnet werden; ein Nachtrag, der im Theaetet so bestimmt angekündigt ist, daß er sogar als Anhang zu diesem, wie eine Art Satyrspiel, zugleich veröffentlicht sein könnte, was ich übrigens nicht gerade behaupten möchte.

Es ist hauptsächlich das Problem des Falschvorstellens, in welchem die beiden Schriften zusammenhängen. Im Theaetet (190 E) wird bei der Erörterung dieses Punktes auf viele absurde Folgerungen hingedeutet auf die die Annahme, daß es gar kein Falschvorstellen gebe, führen würde, die aber SOKRATES für jetzt nicht entwickeln will, weil es scheinen könnte, als[119] träfen die lächerlichen Konsequenzen ihn selbst; denn er hatte ja die fragliche Ansicht anscheinend zu der seinigen gemacht. Erst wenn man mit der ganzen Ansicht fertig sei, so daß jene schlimmen Konsequenzen nicht mehr ihn, sondern Andre treffen, verspricht er sie darzulegen.

Wenn je PLATO in einer seiner Schriften die nächstfolgende voraus angekündigt hat, dann hier. Im Euthydem nämlich werden die lächerlichen Konsequenzen jener törichten Voraussetzung (besonders 285-288) ergötzlich genug entwickelt. Daß es sich hier wieder um ANTISTHENES handelt, dafür gibt es diesmal einen dreifachen äußeren Beweis. Erstens berichtet DIOGENES LAERTIUS in der Biographie des PROTAGORAS (IX 53): den Satz des ANTISTHENES, daß es keine Kontradiktion gebe, habe zuerst PROTAGORAS aufgestellt, wie PLATO im Euthydem sage. Im Euthydem steht nun zwar nicht der Name des ANTISTHENES, aber die These wird, zweifellos als die des zeitgenössischen Philosophen, dem die ganze lustige Polemik gilt, angeführt, und es wird dazu bemerkt: diese Weisheit sei nicht neu, sondern rühre schon von PROTAGORAS her (286 C, 288 A). Sodann bezeugt ARISTOTELES in der Metaphysik (V, 1024 b 32) als die törichte Meinung des ANTISTHENES: man könne garnicht zwei Begriffe in einem Urteil verbinden, sodaß man aussage, Eins sei das Andre (d.h. es sei überhaupt keine Prädikation zulässig, außer so, daß der Prädikatsbegriff mit dem Subjektsbegriff wirklich identisch sei); jedes Ding habe eben nur den einen, ihm eigentümlichen »Begriff« (oder verstatte nur diese einzige Aussage, logos, daß es eben es selbst sei); woraus weiter sich ergab, daß man überhaupt nicht irgendeiner Aussage kontradizieren, ja überhaupt nicht eine falsche Aussage tun könne. Alle diese Sätze aber, unter welchen der zweite der ist, von dem DIOGENES LAERTIUS spricht, treten im Euthydem als die des durch die ganze Schrift bekämpften, in die Doppelgestalt der Gebrüder EUTHYDEM und DIONYSODOR verkleideten Gegners auf; dieser ist also notwendig ANTISTHENES. Endlich treten dieselben drei Sätze nochmals zusammen auf bei ISOKRATES in der Einleitung der Helena, ersichtlich auch hier als die eines und desselben damals lebenden Autors, also wiederum des ANTISTHENES; wie denn auch die ganze Charakteristik des ungenannten Gegners des ISOKRATES in der Helena wie in einer Stelle der Sophistenrede und des PLATO im Euthydem Punkt für Punkt übereinstimmt.13 In denselben[120] und einigen weiteren Punkten aber berührt sich ferner die Polemik im Euthydem so eng mit der im Theaetet, daß die Beziehung auf ANTISTHENES auch für den letzteren auf derselben Grundlage zweifellos feststeht.

Wie aber der Theaetet in der angeführten Stelle deutlich auf den Euthydem vorausweist, so findet sich, und zwar wieder in demselben Sachzusammenhang, eine andere Stelle des Euthydem, die nicht minder greifbar auf den Theaetet zurückdeutet. Es handelt sich um die soeben berührte historische Zurechtweisung, daß die Paradoxien des ANTISTHENES nicht einmal den Reiz der Neuheit haben, sondern auf PROTAGORAS zurückgehen. Von den beiden Sätzen im Verein: es gebe keine Kontradiktion und keine Falschaussage, heißt es (286 C): Ich habe das schon oft und von vielen gehört und mich immer schon darüber gewundert; schon PROTAGORAS hat diesen Satz vertreten, und noch immer scheint er mir seltsam zu sein und mit den andern zugleich sich selbst zu widerlegen (auf den Kopf zu stellen, anatrepein); desgleichen 288 A: Mir scheint, daß dieser Satz immer auf demselben Fleck bleibt und, wie schon längst, nachdem er die andern zu Fall gebracht hat, selbst zugleich hinfällt (ein Bild vom Ringkampf, wenn einer, indem er den Gegner wirft, dabei zugleich selbst zu Fall kommt); und auch eure hohe Weisheit bat das Mittel nicht gefunden, dem abzuhelfen. Daß aber die Meinung, jede Meinung und also jede Aussage sei wahr, sich selbst widerlegt, indem sie auch die Meinung dessen, der meint, nicht jede Meinung sei wahr, für wahr erklärt, also sich selbst umstürzt oder auf den Kopf stellt, hatte der Theaetet und zwar in Bezug auf PROTAGORAS gezeigt; also ist der Hinweis, daß dieser Satz, der ursprünglich dem PROTAGORAS angehöre, schon früher sich selbst widerlegt habe, mit voller Sicherheit auf diesen von PLATO im Theaetet geführten Beweis, daß er sich selbst widerlegt, zu beziehen. Das gegen PROTAGORAS dort Bewiesene, will PLATO sagen, trifft ebenfalls den ANTISTHENES, dessen Weisheit in diesem Punkte nur Wiederaufwärmung der des PROTAGORAS ist. Es war das, obgleich es sachlich vielleicht kein allzu großes Interesse hat, doch deswegen hier nicht zu übergehen, weil die frühe Datierung des Theaetet noch immer vielfach bestritten wird, und bei alleiniger Beachtung der Sprach- und Stilkriterien auch leicht zu bestreiten ist. Man wolle beachten, wie dies Argument mit den bekannten Gründen, die den Euthydem[121] später als den Phaedrus anzusetzen nötigen, zusammentrifft, da der Phaedrus und der Theaetet sachlich wie sprachlich eng zusammengehören.

Sonst möchte auf die aus einer Art Karnevalslaune hervorgegangene Polemik dieser Schrift näher einzugehen hier nicht der schicklichste Ort sein, denn für PLATOS Logik ist daraus nicht allzu viel zu gewinnen. Hervorzuheben ist aber die wenn auch nur beiläufige und versteckt liegende, doch auf einen mächtigen Hintergrund zurückweisende Andeutung (290 C): daß Geometrie, Astronomie, Rechenkunde wohl allerlei schöne Erkenntnisse zu erjagen, aber nicht auch sie zu gebrauchen wissen, sondern ihre Funde, wenn sie vernünftig sind, zum Gebrauch einem Andern, nämlich dem Dialektiker, übergeben; der sich dann in einem absichtlich hier im Dunkeln gelassenen, aber aus dem später im Staat entwickelten Gedanken leicht zu ergänzendem Zusammenhang als identisch erweisen soll mit dem echten Staatsmann, mit dem, der sich auf die Königskunst versteht. Diese Andeutung ist unschätzbar als ein Zeichen, wie der im Phaedrus gewonnene Begriff der Dialektik sich bereits zu vertiefen beginnt in Richtung auf eine letzte Vereinigung der Ethik und Staatskunde mit der theoretischen Wissenschaft, und zwar auf der Grundlage der Mathematik. Nimmt man diese dem Staat vorgreifende Verwendung des im Phaedrus zuerst fixierten Begriffs der Dialektik zusammen mit der demselben Dialog gegenüber geänderten Stellung zu ISOKRATES im Schlußteil des Euthydem und mit der oben aufgezeigten Beziehung zum Theaetet, der seinerseits wieder in mehr als einem Punkte deutlich auf den Phaedrus zurückwies, so muß man gestehen, daß, was auch von seiten des Stils zunächst dagegen zu sprechen scheint, das vereinte Gewicht dieser sachlichen Gründe dem Euthydem seine Stelle unweigerlich nach dem Phaedrus und Theaetet und zwar unmittelbar nach dem letzteren anweist.

13

S. die Zusammenstellung, Philol. N. F. II, S. 616, Anm. 64.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 119-122.
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