B. Die Ursprünglichkeit der Erkenntnis und der Anteil der Sinnlichkeit (pag. 72-77).

[142] Die zweite Erörterung der Ideenlehre wählt zum Ausgangspunkt den Satz von der Wiedererinnerung, der mitsamt seinen Beweisen aus dem Meno in Erfahrung gebracht, fast zitiert dann aber weiter entwickelt wird. Der dort vorwaltende Gedanke, daß man Erkenntnis nur gewinnt, indem man sie aus dem Grunde des eigenen Bewußtseins hervorholt, ist auch hier der Kernpunkt; 75 E: das Lernen, der Gewinn der Erkenntnis ist »Wiederaufnahme einer uns schon angehörenden Erkenntnis« (SCHLEIERMACHER; oikeian epistêmên analambanein). 76 E: Wir finden das Sein der reinen Denkbestimmungen als etwas, das wir zuvor schon hatten, als unser eigen (hyparchousan proteron aneuriskontes hêmeteran ousan, scil. pasan tên toiautên ousian); 92 D: ihm selbst, dem Bewußtsein, gehört dies Sein an (autês estinscil. tês psychês – hê ousia).

Weit bestimmter aber als im Meno wird hier dies Schöpfen aus dem Selbstbewußtsein auf die reinen Denksetzungen eingeschränkt. Nur der Anfang der Betrachtung ist psychologisch. Wenn einem bei einer Wahrnehmung außer dem Wahrgenommenen selbst etwas andres einfällt, das dem Wahrgenommenen ähnlich oder auch entgegengesetzt, oder auch nur oft mit ihm zugleich aufgetreten ist, so nennt man das Erinnern. So erinnert uns aber der sinnliche Gegenstand an den wahren zu Grunde liegenden Gegenstand, nämlich den rein im Denken gesetzten, als bloße Kopie an das Original, hinter welchem die Kopie, mag sie ihm mehr oder weniger gleichen, doch jedenfalls zurückbleibt. Zum Beispiel (74 A), wir sagen doch, es gebe eine Gleichheit, nicht eines Holzes oder Steines mit einem andern oder sonst von etwas derartigem, sondern »das« Gleiche, die Gleichheit selbst.[142] (Daß es sie gibt, wird auch hier mit Nachdruck vom Mitunterredner bekräftigt, aber gibt zu keinen Zweifeln oder näheren Erläuterungen Anlaß.) Und erkennen wir nicht auch »es selbst, was es ist«? Ja. Nun woraus denn erkennen wir es? Doch wohl »aus« dem eben Gesagten, den Hölzern oder Steinen oder sonstigen gleichen Dingen, die wir sahen. Aus diesen (verstehe: aus Anlaß solcher Wahrnehmungen) haben wir jenes in Gedanken bekommen, und doch ist es ein anderes als sie. Denn die Steine und Hölzer, denen wir das Prädikat der Gleichheit beilegen, erscheinen dem einen gleich, dem andern nicht, das Gleiche selbst hingegen erscheint nie ungleich, die Gleichheit nie als Ungleichheit; also sind nicht dasselbe die gleichen Dinge und das Gleiche. Im Griechischen stehen hier einfach Plural und Singular sich gegenüber: die Gleichen und das Gleiche. Der Begriff ist, wie seit dem Meno feststeht, die Einheit der Mannigfaltigkeit vorkommender Fälle.

Das will sagen: in der reinen Denksetzung ist stets bedingungslos A = A oder = A + B – B, 2 = 2 oder = 1 + 1, da ist kein Raum für den Zweifel, ob es etwa auch anders sein könnte; wogegen im Sinnlichen zweifelhaft ist, ob ein Gegenstand, den etwa unsre Messung als zwei Fuß lang angab, einem andern, der dasselbe Maß aufwies, nun auch genau gleich ist oder nicht. Man erinnere sich der anfänglichen Feststellung der wesentlichen Inexaktheit des Sinnlichen; modern wäre auch hier von der Tatsache der Empfindungsschwelle zu reden.

Gleichwohl, heißt es weiter, haben wir »aus« diesen, den Gleichen, die doch etwas andres sind, als jenes, das Gleiche, dessen Erkenntnis in Gedanken bekommen; was nach dem erst Gesagten unter den psychologischen Begriff des Erinnerns subsumiert wird. Aber, da nun doch das Sinnliche niemals den reinen Begriff erfüllt, sondern stets in gewissem Maße dahinter zurückbleibt, so müssen wir notwendig es selbst, das Gleiche, voraus gewußt haben. (74 E. Dieses Vorauswissen, auf das ARISTOTELES, anal. post. II. 19 u. ö., sich bezieht, ist der historische Ursprung der Erkenntnis a priori.) Denn ursprünglich können wir nur durch das Urbild das Abbild (indem wir es darauf »zurückbeziehen«, 75 B, 76 D), aber nicht durch das Abbild das Urbild erkennen. Indessen wird stark betont, daß wir nichtsdestoweniger nirgendwo anders her den Begriff in Gedanken gefaßt haben noch es überhaupt möglich ist ihn in[143] Gedanken zu bekommen, als »aus«, d.h. aus Anlaß des Sehens oder Tastens oder irgend sonst einer Sinnesempfindung (75 A). Indem wir somit allerdings beim Gebrauch der Sinne (75 E) die voraus schon gehabte Erkenntnis wiedergewinnen, so ist doch, was wir Lernen nennen, in der Tat ein »Zurücknehmen« unsrer eignen Erkenntnis; welches übrigens dialektische Erziehung voraussetzt (76 B C, vgl. Theaet. 186 C). Natürlich gilt, was am Begriff des Gleichen gezeigt ist, ebenso von allen reinen Begriffen (75 CD); genannt werden, nächst den mathematischen Grundbegriffen Gleich, Größer, Kleiner, die als Musterbeispiel dienten, die sittlichen, die dann weiterhin (76 D, 77 A) als vornehmste Beispiele allein das ganze Gebiet der reinen Denksetzungen repräsentieren.

So soll nun der Satz der Wiedererinnerung, und mit ihm die Präexistenz der Seele, mit der »gleichen Notwendigkeit« gelten wie die auch hier überall als voraus feststehend angenommene Hypothesis, daß es die reinen Denksetzungen gibt. »Wenn es das gibt, was wir beständig im Munde führen, das Schöne und Gute und alles derartige Sein, und wir auf dieses alles, was uns durch die Sinne kommt, beziehen als auf etwas, das wir zuvor schon hatten und so als unser Eignes wiederfinden, und so jenes mit diesem vergleichen«, so gilt dann auch jene Konsequenz eines Daseins der Seele vor diesem Leben (76 D E); vgl. 92 D: so (gewiß) gilt die Präexistenz der Seele, als ihr selbst eigen jene Seinsart ist, die den Beinamen des »was es ist« führt.

Diese angebliche Konsequenz mag nun hier vorerst auf sich beruhen. Dagegen ist für unser gegenwärtiges, aufs Logische rein konzentriertes Interesse von hoher Wichtigkeit die ausdrückliche und wiederholte Anerkennung des unerläßlichen Anteils der Sinnlichkeit an der Erkenntnis: es sei nicht anders möglich die rein gedanklichen Bestimmungen, die wir freilich nur, als ursprünglich unser eigen, aus dem Quell des eignen Bewußtseins schöpfen können, ins Bewußtsein zu heben (so ist vielleicht ennoeisthai am zutreffendsten wiederzugeben), als infolge der sinnlichen Wahrnehmung oder von ihr ausgehend (apo, 76 A). Zwar nur das Bewußtsein selbst vermag, als ganz sein Eignes, den Begriff zu erdenken, nichts Sinnliches vermag ihn ihm zu geben; aber es bedarf, um ihn zu erdenken, gleichwohl der Wahrnehmung: nur am sinnlichen Abbild erkennt es, d.h. erkennt es wieder, das Urbild. Das entspricht[144] ganz der Rolle, welche der Sinnlichkeit im Theaetet zuerkannt wurde. Sie gibt nicht den Begriff, sie stellt nur die Frage, auf die er antwortet; aber auf die Frage der Empfindung bezieht sich die ganze Funktion des Begriffs, sie ist nur Funktion der Bestimmung dieses Unbestimmten = x, sie kann somit auch gar nicht zur Ausübung kommen außer an dem Probleme des Sinnlichen. Das wird besonders überzeugend, wenn die Grundbegriffe, wie schon im Theaetet klar wurde und hier das Beispiel der Gleichheit deutlich zeigt, wesentlich Relationsbegriffe sind. Eine Relation kann doch nur gesetzt werden, indem zugleich ein »Mannigfaltiges« gesetzt wird, welches sie auf die »Einheit« des Denkens bezieht. Die Relation selbst aber vollzieht nur das Denken; sie besteht nur im Denken, und das Denken nur in ihr.

Diese Ursprünglichkeit und Selbsteigenheit der Einheitsfunktion des Bewußtseins ist der unzerstörliche Kern der ganzen, tief angelegten Betrachtung. Das darf freilich nicht darüber etwa ganz hinwegsehen lassen, daß das a priori hier wie im Meno und Phaedrus eine psychologische und schließlich metaphysische Wendung nimmt, die sich der »gleichen Notwendigkeit« wie die schließlich zu Grunde liegende rein logische Voraussetzung keineswegs mit Recht rühmt.

Auch das mag als unbefriedigend empfunden werden, was in der Tat hiermit eng zusammenhängt: daß die reinen Grundbegriffe vorgefunden werden sollen als »voraus vorhanden«, nicht aber von Anfang rein erzeugt. Man hat hier wiederum eine Differenz zwischen Phaedo und Theaetet finden wollen. Sie ist nicht vorhanden. Auch dort heißt es, nicht anders als hier, daß das Bewußtsein »durch sich selbst« die reinen Denkobjekte, nicht etwa schafft, sondern »betrachtet«, in ihnen Sein und Wahrheit »erfaßt« (184 ff., 185 E, 186 CE); und gerade dort heißen die Ideen »dastehend in dem was ist« (176 E). Und wenn anderwärts, bei dem Gleichnis der Geburtshilfe, von einem Hervorbringen aus sich selbst, einem Produzieren gesprochen wird, so besagt das doch nicht mehr als die Entwicklung des in uns schlummernden Wissenskeimes zum wachen Bewußtsein durch dialektische Erziehung, die ebenso im Meno und Phaedo (76 B, vgl. Theaet. 186 C) gefordert wird. Gewiß, nur in der systematischen Übung der Funktion des Urteilens, im Fragen und Antworten, entsteht uns der bewußte Begriff, wenngleich er der Anlage nach von Haus aus in uns war; und[145] so kommt nun der Begriff uns zum Bewußtsein als unser Eignes, das wir zuvor schon gehabt haben müssen, nur ohne es zu wissen. »Es ist in dir, du bringst es ewig hervor«, sagt der Dichter in demselben scheinbaren Widerspruch. Ganz so ist es bei PLATO gemeint, im Theaetet wie im Phaedo. Eben weil es dem Grunde nach in uns ist, vermögen wir es, von außen nur angeregt, uns selbst zu deutlichem Bewußtsein zu entwickeln und, so entwickelt, als Objekt gleichsam aus uns herauszustellen.

Um weiter zu gehen, bis zur völlig reinen Erzeugung aus der Funktion des Denkens, ist PLATO bisher noch zu sehr gewohnt, den Begriff als ein für allemal fest, unbeweglich, ewig »seiend«, nie »werdend« zu denken, wie es gerade im Phaedo so oft gesagt, aber auch im Theaetet durchweg angenommen ist. Erst in einer späteren Periode – übrigens auf der Grundlage, die im Schlußteil des Phaedo erreicht wird – ist es ihm zu voller Klarheit gekommen, daß eine Art Bewegung, eine Art Selbstentwicklung, also eine eigene Art Leben den Begriffen selber innewohnt, was weit zwingender auf eine reine ursprüngliche Erzeugung der Denkobjekte im Bewußtsein führt. Freilich verliert damit der Schluß auf die Präexistenz jeden überredenden Schein. Aber diese Gefahr wird nicht empfunden, weil in dieser späteren Zeit PLATO der psychologischen Betrachtung des Logischen überhaupt weniger zuneigt, sondern vorzieht, streng im logischen Geleise zu bleiben.

So ist nun zwischen den beiden »äußersten Enden« der Erkenntnis (wie KANT sagt), Sinnlichkeit und Verstand, eine Verbindung, ein positiver Zusammenhang wenigstens angebahnt. Die strenge Verschiedenheit beider wird festgehalten: Der Begriff ist »neben« oder »außer« dem Sinnlichen, als ein Andres (74 A); aber »aus« aller Verwirrung des Sinnlichen heraus, nur aus ihr, erkennen wir das reine, gedankliche Sein, indem wir, von den Schwankungen der Sinne absehend, den Gedanken feststellen auf das, was in allen Schwankungen als Eines und identisch sich festhalten läßt. So erkennen wir »das« Gleiche aus »den« Gleichen, nicht indem wir den Maßstab der Gleichheit den Sinnen entnehmen, sondern indem wir den Grundbegriff der Gleichheit als Maß zu Grunde legen, an diesem Maße das Sinnliche messen, und es so, nicht als gleich, aber der Gleichheit mehr oder minder nahekommend, erkennen.

Hat man hier, mit ARISTOTELES, etwa Anstoß daran zu[146] nehmen, daß die Idee als Ding erscheint, »neben« und »außer« den Sinnendingen, und zwischen beiden die dingliche Relation der Ähnlichkeit? Wer diesen Anstoß nimmt, muß ganz übersehen, daß es sich um Dialektik, ums »Fragen und Antworten«, um die Aussage und ihre Begründung bei der Idee ganz allein handelt. Keineswegs soll geleugnet werden, daß PLATO diesen Anstoß mitverschuldet hat durch die gerade hier wieder ihm begegnende Abbiegung ins Psychologische. Aber dieser Fehler (wenn es einer ist) wird fast ganz berichtigt durch die letzte dialektische Erörterung im Phaedo selbst, die dem gefährlichen Metaphernspiel bewußt ein Ende macht und den streng logischen Sinn der Idee in einer Reinheit ausspricht, daß man sich allerdings nicht genug wundern könnte, wie ein unmittelbarer Schüler PLATOS darüber so ganz hat hinweglesen können – bewiese nicht seine ganze eigene Philosophie eine vollkommene Unfähigkeit, sich in den Gesichtspunkt des methodischen Idealismus auch nur vorübergehend zu versetzen.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 142-147.
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