C. Die beiden Gattungen des Seins: das Unwandelbare und das Wandelbare (pag. 78-84).

[147] Dieser Teil der Darlegung scheint ganz darauf gerichtet, die These, in der der Phaedo noch nicht die volle Höhe der Idee als Methode erreicht, die absolute Unwandelbarkeit des rein gedanklichen Seins, unangreifbar festzustellen. Und doch ergibt sich bei näherem Zusehen, daß sich gerade hier eine darüber hinausführende Betrachtung, noch bestimmter als im vorigen Teil, vorbereitet.

Um zu entscheiden, ob die Seele zerstörlich sei oder nicht, soll erst allgemein ausgemacht werden, welche Dinge ihrer Natur nach der Zerstörlichkeit unterworfen sind und welche nicht. (Auf das analytische Vorgehen sei nebenbei aufmerksam gemacht.) Das Erstere gilt vom Zusammengesetzten, indem eben die Zusammensetzung sich wieder auflösen kann; das Letztere vom Unzusammengesetzten. Jenes wird dann gleichgesetzt dem immer Wechselnden. Hier vermißt man eine logische Vermittlung. Ohne Zweifel ist die Meinung, daß aller Wechsel nur Wechsel unzerstörlicher Elemente, also Wechsel der Zusammensetzung sei. Das Unzusammengesetzte muß demnach nicht bloß unvergänglich, sondern auch allem Wechsel entnommen sein. Eben dies gilt aber von den reinen[147] Denkobjekten, von denen schon vorher freilich nur als Faktum behauptet, nicht eigentlich begründet wurde, daß sie sich uns immer gleich, nicht bald so, bald anders darstellen. Sie sind in sich unwandelbar; eben das besagt ihr »Sein«, daß sie immer »einartig, an sich selbst« monoeides on auto kath' hauto 78 D), daher immer mit sich identisch sind. Dagegen die vielen z.B. Menschen, Pferde, Gewänder oder was sonst es sei, denen die Prädikate gleich, schön usw. zukommen, die also mit den reinen Denkobjekten gleiche Benennung tragen, verbleiben nie, sozusagen in keiner Hinsicht identisch, weder jedes mit sich noch untereinander. Diese sind nun das Sichtbare, überhaupt Sinnliche, jenes dagegen unsichtbar, nur dem Denken des Verstandes (dianoias logismô 79 A) erfaßlich; nachher heißt es dafür: rein gedanklich (Denkgegenstand, noêton) und durch Philosophie zu erfassen (philosophia haireton). Das also setzen wir als die beiden Gattungen (Grundgestalten) dessen was ist (dyo eidê tôn ontôn): das Sichtbare und das Unsichtbare, dieses immer mit sich identisch, jenes nie identisch (79 A). Das Erstere wird weiterhin gleichgesetzt dem Körperlichen (81 B), Menschlichen, Sterblichen, Ungedanklichen (Inintelligibeln, anoêton), Vielgestaltigen, Auflöslichen (80 B), das Letztere dem Unkörperlichen (85 E), Göttlichen, Unsterblichen, rein Gedanklichen (der Meinung oder dem Schein Entzogenen, adoxaston, 84 B), Einartigen, Unauflöslichen (80 B). Die Seele nun, lautet endlich der Schluß, ist, als Unsichtbares, jedenfalls verwandter, gleichartiger der letzteren Gattung, während der Körper unzweifelhaft der ersteren zuzurechnen ist. Also hat sie – wenigstens eher darauf Anspruch als unzerstörlich angenommen zu werden.

Auch diesmal darf und muß der hier besonders bedenkliche Schluß auf die Unzerstörlichkeit der Seele, zumal der Einzelseele, für uns ganz außer Betracht bleiben. Desto mehr ist der große, folgenreiche Fortschritt hervorzuheben, daß jetzt das Wandelbare, nämlich das Gebiet des Sinnlichen, als zweite »Gattung dessen was ist« neben dem Unwandelbaren, den reinen Denkobjekten anerkannt wird, während bis dahin nur dem Unwandelbaren, im reinen Begriff Erfaßlichen ein Sein, eine Wahrheit zuerkannt wurde, schlechthin hinausgehend über das Sinnliche, das nur scheint, nicht ist. Noch im Theaetet (186 DE) wurde das Sein und die Wahrheit schlechterdings auf das Gebiet der reinen Denksetzungen eingeschränkt, in den Sinnen sollte keine Wahrheit sein; wenngleich das über die Eleaten,[148] die »Stillsteller des Alls« 14(181 A) Angedeutete schon die Entscheidung erwarten ließ, daß es weder allein Beharrung noch allein Bewegung, sondern beides gibt. Hingegen sind die Schriften der Spätzeit PLATOS, namentlich der Sophist (von 248 an; 254 D) und der Timaeus (51 u. 27) hier mit dem Phaedo ganz eines Sinnes.

Es ist entschieden nicht ein bloßer Unterschied der Terminologie, ob man gegenüberstellt das begriffliche Sein als das allein wahrhafte, und das sinnliche, das nur zu sein scheint oder das »wir« (Menschen) fälschlich seiend nennen, zu nennen gewohnt sind, wie sich PLATO im Phaedrus ganz nach dem Sinne und der Redeweise der Eleaten ausdrückte; oder ob man, wie hier, als zwei Gattungen des Seins, ohne irgend eine Andeutung eines solchen Unterschieds des Wahrhaften und des fälschlich so Genannten, anerkennt das Sein der reinen Denkobjekte und das Sein der Sinnendinge. Sondern man hat hier den bestimmten Gedanken zu erkennen, daß eine Wahrheit der Erfahrungserkenntnis, eben auf Grund der Ideenerkenntnis, wiederum möglich, ja durch diese Grundlegung gerade ermöglicht wird. Das Sinnliche ist Schein und bloße Meinung, solange es nicht auf die reinen Setzungen des Denkens »zurückbezogen« ist, solange der Wechsel der Erscheinung gesetzlos, mithin unbestimmt bleibt. Aber diese Zurückbeziehung, diese gesetzliche Bestimmung des Wechsels der Erscheinung ist möglich, muß möglich sein, also kommt dem Sinnlichen ein ihm eigentümliches Sein, eine ihm eigentümliche Wahrheit zu.

Bis zu diesem Postulat, das bis jetzt allerdings noch nicht durch den bestimmten Nachweis der Methode einer Wissenschaft des Sinnlichen erfüllbar gemacht ist, hat sich die Anerkennung der Sinnenwelt doch jetzt schon durchgerungen. Der erste Grund dazu war im Theaetet gelegt; das x der Sinnlichkeit muß, obschon in sich unbestimmt und aus sich unbestimmbar, doch bestimmbar gedacht werden durch oder in Beziehung auf die Begriffsfunktion. Ja man möchte, wenn nicht das Weitere (bes. 187 in.) zu bestimmt widerspräche, den Worten (186 D) gern diese günstige Deutung geben: Nicht zwar in den Affektionen der Sinne sei Erkenntnis, aber in dem auf diese gerichteten[149] Denken, denn darin, also doch im empirischen Erkennen, im Erkennen des Sinnlichen selbst durch das darauf gerichtete Denken, sei Sein und Wahrheit möglich, nur nicht in jenen (den sinnlichen Affektionen) für sich, ohne die Denktätigkeit. Bestimmt aber darf und muß man hier im Phaedo diese dort schon sich nahelegende Konsequenz erreicht finden: das Sinnliche ist zum Sein erhoben, wenngleich zu einem Sein zweiter Ordnung.

Wie aber ist das möglich, daß auch dem Sinnlichen ein Sein zukommt? Nur so, daß die zwei Gattungen des Seins sich gründen in zwei Gattungen des Urteilens, da doch Sein überhaupt nur die Funktion des Urteilens bedeutet und außer ihr keinen angebbaren Sinn hat. Ein empirisches Urteilen also muß möglich sein auf der Grundlage des reinen, während es freilich unmöglich war, bevor diese Grundlage erreicht war. Der Wechsel im Sein wird also sich zu erweisen haben als Wechsel der Bestimmungen im Urteil. Dies war ja schon durch die zweite dialektische Erörterung (oben S. 142 ff.) angebahnt; dem empirischen Urteil über Gleichheit in den Sinnendingen wurde zu Grunde gelegt das reine Urteil über »das« Gleiche, und auf dieser Grundlage erwies sich schon dort eine wenn auch stets nur approximative Gültigkeit des Urteils über die empirische Gleichheit als möglich; durch die »Zurückbeziehung« des »Abbilds« auf das »Urbild«. Es fragt sich nur noch nach der genauen Methode dieser Zurückbeziehung. Es ist die vierte, mächtigste dialektische Erörterung dieses Dialogs, welche diese Frage stellt und löst. Als ihr Thema darf schon jetzt formuliert werden:

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Das Wortspiel ist nicht wiederzugeben: stasiôtai sind sonst die Aufständischen, oder die eine (feindliche) Sonderstellung einnehmen. Das Unerhörte, gleichsam Revolutionäre der Leugnung aller Bewegung, die alle Naturwissenschaft zunichte macht, wird dadurch stark zum Ausdruck gebracht.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 147-150.
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