Metakritischer Anhang (1920)

Logos – Psyche – Eros

Ein schlechter Platoniker, der mit irgendeiner philosophischen Darstellung, und sei es die der Grundphilosophie PLATOS selbst, je abgeschlossen haben wollte, der nicht, so wie er, jeden Augenblick umzulernen und früheren Irrtum selbst aufzudecken bereit wäre. Gedanke steht nicht still. Stets fort-, über sich selbst hinausarbeitend, wandelt er den Denkenden, so daß es ihm mehr und mehr zur Unmöglichkeit wird, sich in vordem Gedachtes wieder zurückzudenken. Und doch fordert das die Neuauflage eines vor längerer Zeit verfaßten Werkes. Im gegenwärtigen Fall war der innere Abstand so groß geworden, daß dem Verfasser nur die Wahl blieb, sein Werk ganz umzustoßen und von Grund aus neu aufzuführen, oder es durchaus als das stehen zu lassen, als was es von Anfang an nur angesehen sein wollte und in seiner Wirkung sich auch wohl bewiesen hat: als einzelnen Schritt im steilen Anstieg zum Verständnis der Urtat des Geistes, als die wir die Schöpfung des philosophischen Idealismus durch PLATO anzuerkennen haben. Den Ausschlag gab von der einen Seite die sachliche und bleibende Erwägung, daß die Stufe der Durcharbeitung der Ideenlehre Platos, welche dies Buch bedeutet hat, nun einmal nicht zu überspringen war und es bis heute nicht ist; von der andern die persönliche und zeitliche, daß durch Neudruck ohne tiefgreifende Änderung dem augenblicklichen Bedarf genügt werden konnte, während die an sich erwünschtere gänzliche Umschaffung, anderer, innerlich und äußerlich noch dringenderer Verpflichtungen halber, ein Hinausschieben um Jahre, ja ins völlig Ungewisse bedeutet haben würde. Man findet daher in dieser zweiten Auflage gegen die erste so gut wie nichts geändert. Nur das achte Kapitel hat beträchtliche Erweiterung durch Zusätze erfahren, die etwas mehr sagen als ursprünglich dastand, aber an dem Gesagten nicht rütteln. Das schien notwendig, weil hier die frühere Darstellung, auch ganz von ihrem Standpunkt aus geurteilt, entschieden zu wenig gab. Der »Sophist« war dem Verfasser gegen den »Parmenides« und[459] den »Philebus«, deren Bedeutung ihm damals ganz neu aufgegangen war, etwas zu sehr in den Hintergrund getreten. Sonst haben nur Kleinigkeiten sei es Berichtigung oder eindeutigere Fassung gefunden.

Rechenschaft aber darf der Leser schon jetzt darüber erwarten, inwiefern das Ganze dieser Darstellung ihrem Urheber nicht mehr genügt, und in welchem Sinne er glaubt, daß sie nicht bloß einer Weiterführung, sondern in nicht Wenigem tief eingreifender Umschaffung bedarf. Voll ausreichend kann diese Rechenschaft nur in einem neuen Buche gegeben werden. Auch steht der Entschluß beim Verfasser fest, ein solches, sobald es ihm, der gedachten andern Verpflichtungen wegen, möglich sein wird, vorzulegen. Aber die bisherigen Erfahrungen und das unerbittlich fortschreitende Alter warnen ihn, es bei solchem Wechsel auf die Zukunft bewenden und bis zu seiner Einlösung die Leser über seine neue Stellung zu PLATO ganz im Unklaren zu lassen. Und so soll darüber in diesem »Metakritischen Anhang« soviel gesagt werden, als unerläßlich nötig und zugleich hinreichend scheint, den Lesern Anleitung zu selbständigem Weiterforschen zu geben, der Kritik aber die Mühe solcher Berichtigungen zu ersparen, die der Verfasser längst selbst für sich vollzogen hat. –

»Philosophie« besagt, nach der klassischen Bedeutung dieses Wortes, die eben PLATO ihm erteilt: das Streben zu jenem »Einen, allein Weisen« (hen to sophon mounon), von dem schon HERAKLIT zu sagen weiß; zur Einheit aber des Vielen, damit auch Vielheit des Einen. Denn es ist nun einmal (nach Phil. 15 D) das nie sterbende noch alternde Begegnis der gedanklichen Entwicklungen in uns, als solcher (tôn logôn autôn athanaton kai agêrôn pathos en hêmin), daß stets (also zugleich), heute wie vorlängst, im Ganzen wie im Besondern, welches dem Gedanken sich entwickelt (pantê kai kath' hekaston tôn legomenôn), eben zufolge der sich entwickelnden Gedanken (hypo logôn) Dasselbe Eines und Vieles – Einheit des Vielen, Vielheit des Einen, – »wird« (nicht bloß »ist«). Auf diese Einheit muß somit alle Philosophie, die diesen Titel rechtmäßig tragen soll, hinstreben und strebt die heutige Transzendentalphilosophie entschlossen hin. Aber sie konnte, nach der Lage, wie sie etwa vor einem Menschenalter war28, nicht anders als von einer schier auseinanderfallenden[460] Vielheit philosophischer Einzelfragen her den Rückweg zur Einheit sich erst mühsam wieder bahnen, den wie verschütteten gleichsam aus der Tiefe wieder ausgraben und für sich gangbar machen. Und so konnte auch der Weg zum besseren Verständnis PLATOS nicht anders als von Einzelgliedern seines Gedankenbaus, die ja nicht Stücke sind, auf deren Einheit zurück genommen werden. Hieß vielleicht schon das, PLATO nicht platonisch genug ins Auge fassen, Heutiges, Unsriges, fälschend in ihn hineintragen? War es denn nicht möglich, wenn aber möglich, dann auch geboten, sich ausschließlich in den eignen Gesichtspunkt PLATOS zu stellen, ihn, unvermittelt durch irgendein mehr oder minder trübendes Augenglas, rein aus sich selbst zu verstellen? – Nein, das war und ist in alle Zeit unmöglich. So wie PLATO selbst (nach Phaedo 99 f.) fürchtet an der Seele geblendet zu werden, wenn er ohne die Vermittlung, gleichsam das Augenglas, des Begriffs, der logischen Entwicklung, der »Methode« der »Hypothesis«, die Dinge, wie sie in sich sind, zu erfassen versuchen wollte; wie er vielmehr gar nicht zugibt, daß man sie auf solch hypothetischem Wege nur abbildlich und nicht urbildlich erfaßt: so ist und bleibt allzeit die Aufgabe, sei es PLATO oder sonst einen wirklichen Philosophen zu verstehen, die einer »Unterlegung«, im genauen Sinn der platonischen Hypothesis. Oder bedürfte man da irgend weniger als in sonst einem Erkenntnisgebiet des Schutzes vor Blendung? Wer wollte sich denn anmaßen, aus einer Handvoll Texte, über deren stets an bestimmte zeitliche Anlässe geknüpfte Entstehung und Bedeutung der Urheber keinen Zweifel gelassen hat, das Werk eines geistigen Weltbildners von solchem Ausmaß der Schöpfungskraft, so wie es vor seines Geistes Augen gestanden haben müsse, in sich nachzuschaffen? »Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir«, würde da wohl die Antwort lauten. Wir haben vielleicht fünfzigmal so viel von GOETHE, und er ist noch nicht hundert Jahre tot, also der innere Abstand um ein Vielfaches geringer; und doch, wer wollte sich zuständig halten, seine innere Welt, so wie sie in ihm lebendig war, in sich nachzuleben? Gäbe es selbst den Wundermann, der dessen fähig wäre, was wäre damit gewonnen, daß das einmal gewesene Ungeheure noch ein zweites Mal wäre, um hernach – wieder gewesen zu sein? Eine Kopie, die dann erst wieder der Kopie bedürfte – und so nach Belieben weiter? Ein Gedanke, freilich würdig eines Zeitalters,[461] das in allerlei Abklatsch und Ersatzware schwelgt und nur zu gern der schlechten Nachbildung mit berühmter Aufschritt vor der vielleicht schlichten aber ursprünglichen Schöpfung den Vorzug erteilt! Nichts, das einmal war, aber von der Zeitlichkeit erlöst zum Ewigen geworden ist, könnte je oder sollte ein zweites Mal in die hemmenden Schranken der Zeit eingeschlossen werden. Es würde, indem es in eine andre Zeit, das heißt aber schon, in durchaus andre geistige Zusammenhänge eintritt, sofort ein Andres werden, entweder schlechthin eine Entstellung, oder ein Neues von eignem Wuchs und Wert, im günstigen Fall aus der gleichen überzeitlichen Urkraft, aus der gleichen »Idee«, aus der auch das geboren war, was als Urbild dabei vorschweben mochte; etwa wie PLOTIN glauben konnte Platoniker zu sein. Indessen auf die Urkraft, die Idee kommt es allein an; in ihr »selbst« (um ganz platonisch zu sprechen) und nicht im bloßen Abbild ihrer jeweiligen zeitbestimmten Ausprägung beruht der grundlegende Sinn, beruht die schöpferische Potenz und damit die echte »Wirklichkeit« eines jeden, das ein »Werk« des Geistes mit Fug genannt werden mag. Nur so, in seiner fortzeugenden Kraft, nicht aber als toter, nur mitzuschleppender Stoff, vermag und verdient es weiter zu leben. Es lebt, wenn und nur wenn es, zeugend, auf ihrer Empfängliches trifft, um in ihm ein Verwandtes und Gleichwertiges, nie Identisches zum Leben zu wecken, das dann sich erkennen wird als Geist vom gleichen Geist, nicht bloßer Abguß im schlechteren Material.

Deshalb ist, als gleich verständnislos für das Sachliche der Aufgabe historischer Darstellung wie für das Persönliche der Art, wie sie in diesem Buche zu lösen unternommen worden ist, alle Rede zurückzuweisen, als habe man PLATO zum Kantianer vor KANT und gar Marburger Kantianer vor Marburg umdeuten wollen. Wer in PLATO die auf KANT voraus-, in KANT die auf PLATO zurückweisenden Züge übersehen kann, muß beide gleich schlecht begriffen haben. Wer vollends einen Marburger fähig hält, PLATO als Kantianer nach Marburger Observanz erweisen zu wollen, verfälscht den ganzen Sinn des philosophischen Bestrebens, das man mit dem Titel »Marburger Schule« beehrt. Kein Zeitalter, keine Schule, kein Einzelner wird je anders können als dem zeitlos Ewigen, über alle Schranken der Schulen und Individualitäten hinweg Wirkenden den Ausdruck zu geben, den die Zeit, die Arbeitsgemeinschaft, in der[462] ein jeder steht, und die individuelle Eigenart ermöglicht. Nimmer aber wird für solch individuellen Ausdruck Allgemeinheits- oder gar Ewigkeitsgeltung in Anspruch genommen; sondern er behauptet lediglich die Geltung einer »Hypothesis«, die ihr bedingtes Recht nur erweisen kann in der Folgerichtigkeit, mit der sie sich durchführt. Nur so hat jede einzelne Aufstellung dieses Buches je verstanden sein wollen, so aber steht sie unbegrenzt offen der Kritik, nicht fremder allein, sondern zu allererst der ihres Urhebers; sonst würde er sich für tot seit zwanzig Jahren erklären.

Nur ein Moment dieses hypothetischen Vorgehens war es, daß die Untersuchung nicht gleich auf das Ganze der Philosophie PLATOS, sondern ausschließlich auf die Ideenlehre, oder, um auch hier ganz seine Sprache zu reden, auf die Dialektik gerichtet wurde. Bildet diese, wie doch nicht bezweifelt werden kann, den festen Grund seines ganzen geistigen Weltbaus, so muß sie als dieser Grund auch rein für sich dargestellt und von allem, wozu sie den Grund erst legt, vorerst abgesondert werden können. Grundlage aber kann sie, im Geiste PLATOS, nur sein als Grundlegung, und zwar einzig mögliche, zu der Vereinigung aller noch so reich gegliederten Vielheit geistiger Schöpfung, auf welche »Philosophie« ausgeht. Zur letzten Einheit kann eben, ihrem ganzen Sinn nach, nur eine Grundlegung taugen. So aber hat sie in der Tat PLATO vor Augen gestanden, er hat aus diesem, keinem anderen Grunde sie über jede irgend noch begrenzte Einheit sei es des Denkens oder des Seins hinausgerückt, und hat damit, der Sache nach, in seinem »Epekeina« genau den Begriff des »Transzendentalen« getroffen, der auf verschlungenen Wegen einer langen historischen Entwicklung, über die Transzendentalien des Mittelalters hinweg29, in KANT und dessen Nachfolgern endlich zu ganzer Klarheit reifen sollte.

Auf solche, seit PLATO die allein mögliche radikale Grundlegung nicht einer sondern der Philosophie muß jeder Versuch, ein innerlicheres Verständnis PLATOS oder irgend eines echten Philosophen zu gewinnen, ausschließlich gerichtet sein und bleiben. Aus dieser nichts weniger als willkürlichen, bloß zeitlichen, persönlichen oder Schulrücksicht durfte nicht nur sondern mußte von der Sondergestaltung platonischer Ethik, Psychologie, Religionsphilosophie vorderhand ganz abgesehen werden. Wahrlich[463] nicht als wenn das alles der heutigen Transzendentalphilosophie nicht auch wichtig wäre. Wer von dem Ganzen ihres Bestrebens einigen Begriff hat, muß verstehen, daß es für einen ihrer Vertreter gar kein leichter Entschluß sein konnte, in so unerbittlicher Schroffheit, wie es hier geschehen, die Abstraktion durchzuführen, durch die für einmal PLATOS Dialektik als ganz rein in sich beschlossene reine Grundlegung der Philosophie, keineswegs als die Philosophie PLATOS, herausgearbeitet werden sollte. Vielmehr gerade weil seine praktische Philosophie, und, als ihr Gipfel, seine soziale Pädagogik, weil seine ganz eigengeartete transzendentale Grundlegung der Psychologie, weil seine ebenso transzendentale Grundlegung der Religion, mit einem Wort, weil das Ganze dieser ersten allseitigen Durchführung des philosophischen Idealismus auf Grund transzendentaler Methodik für unsere Zeit von einer gar nicht zu ermessenden Wichtigkeit ist, gerade deshalb war die reine Herausarbeitung der Einheitsgrundlegung zu diesem allem, also vor diesem allen eine Aufgabe von solchem Gewicht, daß, solange ihr nicht genügt war, jede andre sonst noch so schwerwiegende Rücksicht hintangesetzt werden mußte.

Zwar ist es gerade PLATOS, des echten Griechen, besonderer Vorzug, daß alle jene uns heute so naheliegenden Scheidungen für ihn noch gar nicht bestanden. Für uns aber gilt es, dies reine Ineinander aller Richtungen und Dimensionen des »Einen, allein Weisen«, des sich in sich selbst unendlich steigernden Logos, erst wieder zu gewinnen. Eben deshalb kam darauf nicht weniger als alles an, sich des Zentrums erst wieder zu versichern, von dem dann die Radien nach der unendlichen Peripherie hin werden gezogen und durch deren stetig gesetzliche und doch freie Bewegung jene Richtungen und Dimensionen des Sophon oder des Logos in Vollständigkeit werden beschrieben, genetisch dargestellt, »erzeugt« werden können. Zu zeigen, daß, oder wieweit dies schon von PLATO selbst, zwar nicht vollbracht, aber angebahnt ist, wäre die Aufgabe einer neuen Darstellung des ganzen PLATO. Wer aber die Dunkelheiten und Unvollendetheiten, die es da noch zu überwinden gilt, aus eignem Versuch kennt, wird nicht verwundert sein, daß die fast zwei Jahrzehnte, die seit dem ersten Erscheinen dieses Buches verflossen sind, nicht ausgereicht haben, neben vielen sonstigen großen Aufgaben noch diese eigenartig schwierige zu bewältigen. Doch glaubt der Verfasser nunmehr in dies Dunkel wohl einiges[464] Licht tragen zu können, und es soll davon, unter allem Vorbehalt künftig genauerer Ausführung, hier soviel gesagt werden, als im gegenwärtigen Zeitpunkt mit zulänglicher Sicherheit gesagt werden kann und nach der Lage der Zeit, wie sie sich dem Verfasser darstellt, nicht länger ungesagt bleiben darf. –

Den leichtesten Zugang zu einem reiferen Verständnis PLATOS, zum Verständnis vor allem dessen, worin das Zentrum seiner Philosophie unzweifelhaft zu erkennen ist: des Epekeina, das ist, des »Agathon, Kalon, Sophon«, nach ihrer Einheit in einem Letzten, letztlich Unsagbaren, wie es nun auch genannt werde, gewinnt man, wie behauptet werden darf, von HERAKLIT her, dessen enge Verwandtschaft mit PLATO bisher nirgends genügend bemerkt zu sein scheint. Das Erste aber, was sich dem oft wiederholten Bemühen, den »Dunklen« sich aufzuhellen, endlich erschlossen hat, ist, daß seine entscheidende geschichtliche Tat zu erkennen ist in der Entdeckung nicht der Variabilität oder der Relativität, sondern der Subjektivität, oder, um es zugleich sachlich schärfer und strenger im eignen Sinn des Philosophen auszudrücken: der Reflexivität. Fr. 101 (DIELS): »Ich habe mich selbst erforscht«, genauer: bin auf die Suche gegangen nach mir selbst. Fr. 116: »Allen Menschen ist es gegeben, sich selbst zu erkennen und vernünftig zu sein«. (Gemein aber ist allen die Vernunft, 113). Fr. 45: »Grenzen der Psyche würdest du, gingst du darauf aus, nicht finden, und ob du jeden Weg beschrittest, so tief liegt ihr Logos« – das heißt ihr Gesetz. Denn stets liegt in dem Wort, loser oder strenger, der Hinweis auf die gesetzmäßig fortschreitende Entwicklung des Gedankens. Dann aber (Fr. 115): »Der Logos der Psyche ist von der Art sich selbst zu steigern« – zu potenzieren, würden wir sagen. Nur ein andrer Ausdruck dieser immer wiederkehrenden Rückbezüglichkeit auf »sich selbst« ist der allbekannte Satz (Fr. 60): »Der Weg auf und ab ist einer« In ihm sind, wie im Umlauf des Kreises, Anfang und Ende »gemein« (xynon, 103, vgl. 2) d.h. koinzident. Die Koinzidenz, die in dem xynon, wo es auch bei Heraklit auftritt, stets zugrunde liegt, ist letzten Endes keine andre als die des letzten Individualen (eben des »Selbst«) und des letzten Universalen, des »All«, welche nicht nur engstens aufeinander wie Zentrum und Peripherie bezogen, sondern ureins sind; zufolge der Gemeinsamkeit des »Logos«, welcher der »Logos der Psyche« und dennoch »gemein« ist, im Sinne nicht nur[465] der strengsten Wechselbezüglichkeit sondern in der Tat Koinzidenz des Einen und Allen, Allen und Einen (Fr. 50); Zusammenstimmung grade der Gegensätze, Einheit des Differenten, Differenzierung, Selbstdifferenzierung des Einen (51), die stets, und zwar zugleich, Einung, Selbsteinung des Gegensätzlichen, Differenten ist.30

Hat man sich dieser unzerstückt einen, streng durch alles durchgehenden, zugleich in sich selbst unzerstückt individualen und eben damit im reinsten Sinn universalen (zur Einheit gerichteten) Uranschauung einmal bemächtigt, in der das Ganze der Philosophie HERAKLITS nicht nur in sich zusammenhängt sondern beschlossen ist, so wird man nicht mehr darüber leicht hinweglesen als über eine bloß gelegentliche philosophiegeschichtliche Randbemerkung, daß PLATO, an zwei inhaltlich und zeitlich weit auseinanderliegenden Stellen (Gstm. 187 A, Soph. 242 E) fast gleichlautend, als Kern der Lehre des Ephesiers den Satz der Selbstdifferenzierung des Einen und Wiedereinung des Differenten (HERAKL. Fr. 51, 8, 10) ausspricht und darin das aei – daß dies beides stets, also zugleich statthaben soll – besonders unterstreicht; nicht ohne in seiner Weise auf das syntonon, die »Zusammenspannung« der äußersten Gegensätze zur Einheit, als die Eigenheit auch der eignen Denk- und Schreibart des Philosophen, hinzudeuten. So eins ist in der Tat für HERAKLIT die Individualpsyche mit der Allpsyche, daß sie, kraft jener wundersamen unendlichen Selbstpotenzierung, die ja zugleich Selbstverinnerlichung sein muß, sich ihr gleichsam von Angesicht zu Angesicht gegenüber findet. Der Logos ist »gemein« und, eben weil gemein, an sich der Psyche offenbar, obgleich die letzte, alles übersteigende »Harmonie«, das letzte »Sophon« eben jener Urkoinzidenz, »verborgen« (Fr. 54), von den Panta d.i. dem ganzen Bereich sich entwickelnder Differenz geschieden (pantôn kechôrismenon, Fr. 108), also im strengsten Sinne transzendent ist. So ist sie, obgleich Geheimnis,[466] doch offenbar, obgleich offenbar, doch allen verborgen, als vorhanden aber gleichwohl gewußt. Denn die Individualpsyche steht eben in solcher Urgemeinschaft mit der Allpsyche, daß sie, wenn sie diese Selbstvertiefung aufbringt, sie erkennen muß als ihren eignen letzten Grund, als ihr eignes letztes Geheimnis. Aber freilich leben weit die Meisten dahin, als hätten sie je eine eigne Vernunft für sich (Fr. 2). Das heißt aber, sie träumen. Im Traum bewohnt jeder seine eigne, nach außen zugeschlossene Welt, während sie für die Wachenden eine und »gemein« ist (Fr. 89). So leben die Meisten wach dahin wie im Traum, taub mit offenen Ohren, blind mit offenen Augen, nach dem Sprichwort »anwesend abwesend« (Fr. 89, 73, 72, 34, 17, 1 u. ö.).

So HERAKLIT. Muß es nun noch gesagt werden, daß der von dem Philosophen aus Priester-Königsgeschlecht in solch philosophischer Tiefe ergriffene und durchdrungene Urgedanke der Mystik die Anamnesislehre PLATOS mit einem Male aufhellt und sich damit als den Ausgangspunkt der großen weltgeschichtlichen Linie herausstellt, die von PLATO dann über PLOTIN, den falschen DIONYSIUS und JOHANNES den Iren zur Mystik des Mittelalters, zu ECKEHART und NIKOLAUS von Cues, weiter über LEIBNIZENS Monaden zur philosophischen Mystik der Nachkantianer, und durch diese alle bis in unsre gegenwärtigste Gegenwart und zukünftigste Zukunft hinüberreicht?

Vielleicht, wird mancher denken, doch was geht das die Ideenlehre an? – Mehr als man denkt. Als dies Buch entstand, schien es und war es vielleicht geboten, den Mystiker PLATO von dem Ideenlehrer streng getrennt zu halten. Man wird heute den Kritikern recht geben müssen, welche meinen, daß diese Scheidung sich länger nicht aufrechthalten lasse. Mit einer Einschränkung zwar. Solange man stehen bleibt bei der Vielheit der Ideen, oder wenigstens keine andre Einheit dieser Vielheit sucht und vermißt als allein die logische ihres Systems, brauchte die Ideenlehre PLATOS mit seiner Mystik innerlich nicht zusammenzuhängen, sie könnte ganz auf sich stehen, die mystische Fassung bliebe ein bloßes schmückendes Gewand, das man abstreifen dürfte, abstreifen müßte, gerade um sie in ihrer reinen Schönheit zu sehen. Aber eben das bedarf der Berichtigung. Der mit dem Epekeina bezeichnete letzte Einheitsgrund der Ideenwelt meint nicht die bloß logische Einheit des Systems allein, obgleich diese auch, sondern die Einheit des Urlebendigen, Urkonkreten, ja mehr als nur Konkreten,[467] die, eben als solche, gar nicht mehr eine Einheit, eine Idee, einen Logos, sondern die letzte Einheit der Einheiten, die Idee der Ideen, den »Logos selbst« aller Logoi bedeuten will. Als lebendige aber tritt sie in engste Beziehung zur »Psyche selbst«. Gerade in dieser engsten Zusammenfassung von Logos und Psyche stimmt PLATO auffallend mit HERAKLIT überein. Der Logos ist auch ihm Logos der Psyche, der Logos »selbst« auch die Psyche »selbst«. »Ihr selbst eigen« ist, wie besonders der Phaedo wiederholt ausspricht (76 DE, 92 DE, vgl. 66 DE; The. 185 E, 187 A), die Usia der Ideen. Daher wird der Aufstieg zum Ur-Einen stets: im Staat (517 B ff.), im Phaedrus, im Gastmahl, beschrieben als Aufstieg der Psyche, der niemand die Dynamis der Erkenntnis, so wenig wie dem Auge die Sehkraft, von außen hereinsetzen, sondern nur die in ihr selbst liegende, zugleich mit der ganzen Psyche, so herumbringen kann, daß sie sieht, was sie zuvor nur deshalb nicht sah, weil sie sich davon abgekehrt hatte: das Sein, und das Hellste des Seins, das Ur-Sein des Agathon (518 BC).

Hiernach sollte von gar keiner Doppelbedeutung der Idee, einer logischen und daneben einer psychologischen, die Rede sein. Wie der Logos der der Psyche selbst, ist die Psyche, jedenfalls die des Menschen, gar nicht zu denken ohne die Zentralkraft des Logos. Sie ist die Innerste Kraft ihres Lebens, durch die allein sie ihres Ewigkeitsgrundes gewiß wird. Als ewig erkennt sie sich, indem sie Ewiges erkennt, denn Ewiges könnte sie nicht erkennen, wäre sie nicht mit ihrem letzten Seinsgrund, ihrem letzten Lebensgrund, im Ewigen fest verwurzelt und in dieser ihrer tiefsten Wurzel selber ewig. Damit aber steht sie in jener letzten »Schau« dem Ewigen unmittelbar, gleichsam Aug in Auge gegenüber, begreift sich selbst ganz in ihm stehend, wenngleich es nur in der äußersten Grenze ihres Denkbereichs ihr hell bewußt wird. So bedarf sie der Ideenschau, um sich selbst als nicht nur tatsächlich sterbensunteilhaftig, sondern wesenhaft sterbensunfähig zu erkennen, wie eben die Idee, die doch »ihr selbst eigen« ist. Aber auch umgekehrt vermag sie des ewigen Seins der Idee nicht anders gewiß zu werden als sofern sie selbst am Ewigen diesen Teil hat. Also ist gar nicht zu fragen, welches von beiden das Andre beweisen soll; beides, das ewige Sein der Idee und das ewige Sein der Psyche, beweist sich gegenseitig, steht und fällt miteinander.[468]

Wird damit also die frühere Gleichsetzung der Idee mit dem Gesetz zunichte? – Keineswegs. Die Idee bleibt »Hypothesis«. Aber was ist der genaue Sinn dieser Hypothesis? Abgrenzung allerdings: Heraushebung je eines einzelnen Strahls aus der unendlichen Fülle des Lichts, die, sollten wir sie in ihrer Totalität auf uns wirken lassen, uns nur blenden könnte. Sofern und nur sofern bleibt das Urlicht, das sonnengleich uns die Seele erhellt, durch das allein wir »erkennen«, doch selbst als solches uns unerfaßlich, jenseitig, in dieser Jenseitigkeit doch nicht minder gewiß, als wir es nur an dem, was es bestrahlt und damit uns sichtbar werden läßt, also nur in der Vielheit seiner Ausstrahlungen, nicht in seiner Ganzheit in uns aufnehmen, nur seiner als des ursprünglichen Lichtquells gewiß werden können. Aber eben unter dem Gesetz erkennen wir, was wir überhaupt erkennen, nach seiner Zurückbezüglichkeit in seinen Ewigkeitsgrund, mag es von diesem noch so weit abstehen. Die Einzel- Idee ist also gleichsam nur ein einzelner Durchblick durch den ganzen Bereich der Erscheinung in den reinen Seinsgrund alles Erscheinenden, daher von unangreifbarer, obgleich nur bedingter, »hypothetischer« Wahrheit. Unbedingte Wahrheit kann nichts in seiner Vereinzelung beanspruchen, sondern eben diese müßte überschritten werden, nicht bloß in neuer, immer neuer Abgrenzung, sondern bis zur völligen Überwindung aller Gespaltenheit, wenn das letzte, durchaus ungeteilte, un-teilhafte, »seinhaft seiende« Sein sich uns in Reinheit erschließen sollte. Nichts Andres besagt überhaupt für PLATO (und am Ende auch für KANT) der Unterschied des Erscheinens vom übererscheinlichen »Sein«. In »Erscheinung« liegt gar nichts von trügendem »Schein«, obwohl manche schärfere Wendungen bei PLATO (wie bei KANT) solchen Mißverstand immerhin begreiflich machen; sondern es besagt streng nach dem Wortsinn: das Lichtwerden im Einzelpunkt, oder der Einzellinie, von Punkt zu Punkt, oder überhaupt in irgendeiner Abgrenzung. Das drückt scharf und klar die »Teilhabe« (methexis) aus, der gegenüber die Idee das Un-teilhafte (ameres) oder, gegenüber der Vielgestalt ihrer Erscheinung, »Einziggestalte« (monoeides) heißt. So stehen neben der Methexis die höchst positiven Ausdrücke: »Parusie« und »Koinonie«, »Gegenwärtigkeit« des teillos unwandelbar Ewigen mitten im Teilhaften, Wandelbaren, Vergänglichen, und »Gemeinschaft« dieses mit jenem; bei welchem Ausdruck man sich wieder an das xynon des HERAKLIT erinnere. In diesem Lieblingswort des[469] Ephesiers klingt vernehmlicher als im gemeingriechischen koinon der Ursinn des »Mit« (xyn) durch: alles ist miteinander, indem, in unmittelbarer Gegenwärtigkeit, selbst allvermittelnd in seiner Mitte das Ewige steht, und es ebendamit mitten im Ewigen; so wie im Gastmahl vom Eros – der genau diesen Wechselbezug, diese gleichsam unmittelbare Wechselrede (dialektos) zwischen Gott und Mensch, Jenseits und Diesseits vertritt – gesagt wird, daß er, inmitten beider stehend, den Zusammenhang zwischen ihnen ergänzend herstellt, die Kluft ausfüllt, schließt (symplêroi), so daß das Ganze in sich, eben zum Ganzen, zusammengeschlossen (auto hautô xnndedesthai), also ganz ein heraklitisches xynon ist. Die Koinonie besagt somit Zusammenschluß in strengster Kontinuität, durch die in der Tat alle Abspaltung an sich überwunden ist, das sich uns teilhaft Darstellende nicht mehr an sich teilhaft, sondern ins unteilhafte Sein völlig mitaufgehoben, in ihm seinem ganzen positiven Bestande nach gewahrt, nur von seiner Teilhaftigkeit und aller durch diese, nur durch diese ihm anhaftenden Negativität erlöst ist.

Läge aber dies etwa nicht im Sinne des Gesetzes? Gewiß nicht, wenn man im Gesetz nur die Abstraktion des Gemeinsamen, unter Wegfall des Unterscheidenden, denkt; ein Mißverständnis, das freilich von ARISTOTELES ab – dessen gänzliches Nichtverstehen der platonischen »Idee« sich ebendaher erklärt – sich durch die Jahrhunderte fortschleppt, aber von den großen, den schöpferischen Gesetzesforschern nie geteilt worden ist; die waren durchweg, wissend oder nicht, Platoniker. Sie haben das Gesetz immer streng konkret gemeint, erzeugend, voll »gegenwärtig«, immanent der Erscheinung, in ihr selbst, nämlich ihrer Allheit, lebendig wirklich, wirksam, sie in die Kontinuität des Allzusammenhangs, der Allgemeinschaft, des heraklitischen xynos logos, einbeziehend und damit aus aller bloßen Teilhaftigkeit erlösend. Nur wem, vom Studium der Klassiker der Gesetzesforschung her, dieser erfüllte Sinn des Gesetzes feststand, der gemeine abstrakte durchaus abgetan war, konnte überhaupt darauf verfallen, PLATOS ganz nach ihrer Hypothesisbedeutung, als Gesetz zu verstehen, mußte aber dann wohl alles, was von ihr gesagt wird, mit dieser ersten Voraussetzung in klarem Einklang erkennen; mußte freilich darauf gefaßt sein, gründlichstem Mißverstehen und Garnichtverstehen zu begegnen bei allen denen, die das Gesetz als Abstraktion, fern aller Lebensfülle und Wirklichkeit, als Gegensatz der Individuität[470] denken, die vielmehr gerade durch es hergestellt wird. Demnach aber bedeutet die hier vertretene Auffassung der Idee auch nicht den kleinsten Schritt zurück hinter das, was dies Buch von Anfang an vertreten hat, wohl aber einen nicht ganz kleinen Schritt darüber hinaus, der die Konsequenz des früher Behaupteten erst vollendet, es eben damit, seinem ganzen bejahenden Bestände nach, nur erst recht feststellt und von den letzten Zweifeln befreit, die man dawider mit einigem Grunde noch hegen konnte.

Was ist also, nach diesem allen, die »Idee«? Ein andrer »Anblick«, den die Sache dem Erkennenden bietet, eine andre bildhafte »Gestalt«, nicht dem gemeinen Sinn oder der gemeinen Doxa, aber einem andern, nur innerlicheren, doch immer noch rezeptiven Vermögen erfaßlich, vorfindlich, erscheinlich? Also freilich weder als Sinnliches »gegeben« noch durch bloß gedankliche Beziehung und Vermittlung, »diskursiv« herstellbar, sondern unmittelbar »intuitiv«, hinaus über alle sinnliche Vereinzelung wie alle bloß verständigende Vermittlung, jenseits von Zeit und Raum doch wie in einer Überzeit, einem Überraum dinghaft, gegenständlich sich darbietend? Nein, sondern schlechthin aktiv, dynamisch, funktional, Funktion auch der Gegenstandssetzung, auf der alle irgendwelche Gegenstandsdarstellung erst beruht; somit selbst ganz und gar nicht als ein zweiter Gegenstand erkennbar, sondern rein nur erkennend, zum Gegenstand setzend; verständigend, nicht selber verstehbar; logisierend, nicht selbst zu logisieren; darum auch gar keines aufnehmenden Organs fähig noch bedürftig, schlechthin selbsthaft, spontan, aus der Urkraft des »Logos selbst«, der »Denkung selbst«, die mit der »Psyche selbst« ganz eins und wie sie nur lebendig tätig, dynamisch ist, schauend und in der Hinschau gestaltend, nicht geschaut und selbst gestaltet; Einheit (kantisch gesprochen) der »Handlung«, der »Funktion«, durch die erst die Einheit des Objekts sich ganz als konkrete vollzieht und so, im Akt ihres Vollzugs, lebendig wird. Schöpfung also und in keinem Sinne Geschöpf, naturierend, nicht naturiert, ideierend, nicht Ideat, Ursprung (archê, aitia, aition, aitios), nicht Ursprüngliches, auch nicht Ursprung Anderem bloß gebend, ins Sein hervorrufend wie ein über den Wassern schwebender Gott-Schöpfer, doch gebunden an einen von Haus aus ihm äußerlichen, äußerlich bleibenden Stoff; sondern ganz herrscherlich, in nichts bloß dienend und folgend, auch nicht als Führer, als Gebieter bloß vorangehend,[471] das hieße fordernd, wartend des Dienstes und der Folge eines Andern, das die Gefolgschaft etwa auch versagen könnte, sondern unmittelbar schaffend, zeugend, Leben alles Lebens, Wirken alles echten Werks.

Wird also im »Gastmahl« die letzte Stute der Erkenntnis dieses Letztletzten beschrieben als »Schauen allein und Einssein«, theasthai monon kai syneinai (211 D), so darf und will dies monon, »allein«, in der vollen Schärfe verstanden werden: in keinem Sinne mehr Geschautes, Gegenüberstehendes, sondern so daß alles Gegenüber, alle Zweiheit von Geschautem und Schauendem, Liebendem und Geliebtem, Leben Gebendem und Leben Empfangendem überwunden ist. Damit werden alle die bloß verneinenden Prädikate (211 AB) ganz durchsichtig: der Ausschluß aller Zeitbestimmtheit, daher alles Entstehens und Vergehens, Wachsens und Abnehmens, aller bloßen Hinsichtlichkeit oder Bezüglichkeit, sei es des Zeitpunkts oder des Orts oder des Subjekts, dem es gälte; der Erfaßlichkeit durch irgend welches besondere Vermögen, heiße es Phantasie oder Logos oder selbst Episteme, nämlich ein (tis) Logos, eine (tis) Episteme; der Ausschluß überhaupt jedweder Passivität; der schon von selbst die reine Aktivität als bejahende Bestimmung nahelegt, die dann als »Erzeugung« (gennêsis, tokos) und zwar nicht bloßer Abbilder, sondern wahrhafter, unsterblich lebendiger Wesenheit, selbsttätiger, zeugerischer »Tüchtigkeit« (aretê) klar heraustritt (212 A). Und so drücken die endlich folgenden rein bejahenden Bestimmungen vor allem die reine Spontaneïtät, Selbstheit dieses schöpferisch Ewigen, Verewigenden aus: auto kath' hauto meth' hautou, Rückbezüglichkeit auf sich selbst und kein andres, und damit Überwindung aller Geteiltheit (monoeides), schlechthin zentrales Einssein, ursprünglich wesenhafte Einzigkeit, nicht bloß Geeintheit; die als letzter Sinn der Ewigkeit (aei on 211 B) durch die abschließende Wiederholung dieses an erster Stelle (211 A) bereits genannten, somit das Ganze dieser Bestimmungen in sich zusammenbegreifenden Grundprädikats bekräftigt wird.

»Idee« ist somit nicht bloß (wie oben gesagt wurde) Durchschau zur Totalität, Hineinschau alles teilhaft Einzelnen oder Besonderen in sie, sondern An- und Einschau von der Totalität aus, die aus dem Zentrum des Ursprungs alles irgend noch Peripherische oder nach der Peripherie hin Gerichtete nicht bloß erfaßt, sondern hervorgehen läßt; selbst in keinem Sinne mehr peripherisch oder nach einer gegenüberliegenden[472] Peripherie bloß gerichtet. Als das Ur-Gesetz, ganz im aktiven Sinne des Setzens, nicht des bloß Gesetzten, entspricht es der Erzeugung des Umkreises vom Zentrum her; es schließt in sich das Moment des Bewegens und doch im Bewegen selbst Ruhens; es ist »Zum-Sein-Werden« zugleich (genesis eis ousian, Phileb. 26 D) und ruhendes Sein des Werdens31, mit dem es ebendamit konkret eins ist und immer bleibt Durch dies alles ist die Idee hoch hinausgehoben über alle bloße Abstraktion, sie ist Ausdruck, wie gesagt, des Urkonkreten, Lebendigen. Zwar auch dieser Ausdruck des »Urkonkreten« gibt nichts mehr als einen Hindeut, auf den man kaum verfiele, gälte es nicht, allem voraus, die Abwehr jedes Verdachts der leeren Abstraktion. Denn er stellt das schlechthin Ungeschiedene, Ur-Eine und Ganze, Integrale doch noch wie erst »zusammengewachsen« aus den Scheidungen und Spaltungen, also nur im Rückgang vom Vielen, Geteilten her, gleichsam von unten gesehen vor. In der Tat nur von der einmal vorliegenden Gespaltenheit aus ist es das »Wiederzusammengewachsene«, in sich aber vielmehr vor und über aller Spaltung, lebendige Kraft des Lebens und Wachsens in allem was lebt und wächst. Doch läßt sich im Worte »konkret« am Ende eben dies mitdenken: völlige, alle Geschiedenheit hinter sich lassende Wechseldurchdringung, Wechseldurchdrungenheit. So also möge man den Ausdruck verstehen, wenn er, aus Not, im Folgenden doch hin und wieder noch begegnen sollte. –

Möchte hiermit auf PLATOS »Idee« hinlängliches Licht gefallen sein, so ist es, um von hier aus über seinen Begriff der Psyche und weiter des Eros zur Klarheit zu kommen, wohl unerläßlich, voraus noch einen, in der früheren Darstellung, wie überall sonst, noch nicht entscheidend aufgehellten Punkt der Erkenntnislehre ins Reine zu bringen, nämlich die platonische Lehre von der Doxa; womit zugleich, der ganzen Absicht dieses Werks gemäß, auch zur Spezialuntersuchung PLATOS Neues beigetragen wird.

Nicht streitig ist, daß die Doxa eine mittlere Stellung einnehmen soll zwischen Aisthesis und Episteme. Über den genauen Sinn dieser Mittelstellung aber lauten die Äußerungen PLATOS selbst in den Schriften, die sich mehr oder weniger[473] eingehend mit diesem Begriff beschäftigen, keineswegs einhellig. Die Doxa scheint in ziemlich weiten Abständen zu schwanken zwischen drei kaum vereinbaren Bedeutungen: 1. der rein verneinenden ja wegwerfenden des Scheinens aber nicht Seins, des Trugs, oder im gegebenen Fall vielleicht glücklichen doch blinden Treffens; 2. der eines gegen Wahrheit und Falschheit nur indifferenten, Berichtigung vorbehaltenden Someinens, Dafürhaltens, Erachtens; 3. der rückhaltslos bejahenden des Urteilens, kraft der ursprünglichen Einheitsfunktion, in deren Ausübung die »Psyche selbst«, nachdem sie sich selbst die Frage gestellt hat: Ist es oder ist es nicht? Ja oder Nein? sich der Schwankung entrafft und zur bestimmten Entscheidung durchringt: Ja, es ist, oder: Nein, es ist nicht. Die so verstandene Doxa ist mit Episteme zwar nicht identisch, aber ihre unmittelbare Vorstufe, ganz auf sie gerichtet, während die Doxa erster Bedeutung ihr schroff gegensätzlich gegenüber, die zweite indifferent zu ihr steht, keinesfalls sie einschließt.

Zur Idee nun tritt die Doxa in eine bedeutsame Beziehung ohne Zweifel zuerst im Meno. Indem hier die neu gewonnene tiefe Einsicht der Urerschlossenheit des Seins im eignen Grunde der Psyche sich ergreifend ausspricht, wird die Doxa geradezu zum Ausdruck des Emportauchens einzelner Wahrheit aus diesem Urgrunde, des Hervorbrechens also je eines einzelnen Strahls aus dem Lichte des Überhimmels in das Dunkel, in dem die Psyche sonst ratlos in der Irre ging, um endlich verzweifelnd stille zu stehn, auf Wahrheit und Erkenntnis ganz Verzicht tun, nicht länger umsonst suchen zu wollen, was doch, träfe man es selbst durch gut Glück, sich nie sicher erkennen lassen würde als eben das, was man suchte. So aber wird klar: In uns, in der Psyche selbst ist die Wahrheit der Onta (86 A), sind die rechten oder wahren Doxai, die nur durch Fragen geweckt zu werden nötig haben, um Erkenntnisse, Epistemai, zu werden. In dem so im eignen Seeleninnern hervorbrechenden göttlichen Lichte mag dann der damit begnadete Mensch, erkenntnisfrei, grundunbewußt, doch sicher geleitet seinen Weg wandeln und Andern weisen; freilich stets in Gefahr, den vereinzelten Lichtblitz aus der Höhe und die ihm darin zuteil gewordene augenblickliche Erleuchtung nur allzubald wieder zu verlieren und als derselbe Blinde, der er zuvor war, dahin zu tappen. Dagegen schützt nur die allseitig bindende, festlegende Arbeit des beziehenden, Rechenschaft gebenden Denkens, das[474] durch Frage und Antwort, Grundlegung und Entwicklung der Gründe in die Folgen (aitias logismô 98 A) den flüchtigen Gewinn erst bergen und buchen muß, soll daraus Erkenntnis, Episteme, werden. Diese bleibt daher von der Doxa begrifflich scharf geschieden (98 B), obgleich der Entstehung nach auf sie zwingend hingewiesen. Die Doxa selbst aber ist hier entschieden passiv gedacht, aus sich, auf ihre eigne Gewähr, so wenig wahr wie falsch, so wenig recht wie verkehrt; sie kann das Eine, kann aber auch das Andre sein. Zwar irgend etwas, das »ist«, enthüllt sie in jedem Fall; nichts kann erscheinen, das nicht irgendwie auch wäre; aber was es ist und wie weit, kann nicht sie selbst, sondern nur das hinterher kommende Urteil des Rechenschaft gebenden Verstandes entscheiden. Sie selbst urteilt so wenig wie die Aisthesis, von der sie soweit nicht wesensverschieden ist; wie diese, unterliegt sie, für sich urteilslos, der Prüfung des Verstandes auf ihren Wahrheitsbestand. Eine »Funktion« der Erkenntnis, in KANTS Sinne, dürfte sie kaum genannt werden, allenfalls, gleich der Aisthesis, eine materiale Bedingung, während die Formung durchaus der schart von ihr geschiedenen Funktion des Rechenschaft gebenden Verstandes verbleibt. Dieser steht den fliehenden Schotten der Doxa gegenüber wie TIRESIAS den schwebenden Schatten der Unterwelt, von dem gesagt ist: Er allein ist bewußt, die Andern hinfahrende Schatten (100 A). Es ist kein Zweifel, daß die Doxa hier rein rezeptiv gedacht ist, nicht spontan im Sinne der Selbsttätigkeit, sondern allenfalls nur im Sinne des sich von selbst Ergebens. Es ist göttliche Zuteilung (theia moira, epipnoia, katechesthai ex tou theou, enthousiazein), also materiale Gegebenheit, nicht formender Akt.

Dem Meno aber mag auf den ersten Blick ganz nahe der Phaedo zu stehen scheinen. Er nimmt die Anamnesislehre in vollem Umfang und neuer Vertiefung aus dem Meno auf und setzt so die Lehre von den Eide oder Ideen in nur noch engere Beziehung zu den dort zuerst erreichten Grundvoraussetzungen der platonischen Psychologie. Aber angesichts der sonst auch in der Terminologie durchgehenden Übereinstimmung beider Dialoge fällt umso stärker auf, daß die Gegenstellung einer bloß passiven, materialen Doxa gegen den allein aktiven, formenden Logos hier nicht wiederkehrt. An die Stelle der enousa orthê doxa tritt, ohne ein Wort der Erklärung, epistêmê enousa kai orthos logos (73 D, und im Folgenden beständig: epistêmên eilêphenai u. ä; 76 E oikeian epistêmên analambanein). War also im Meno Doxa[475] von Logos (Episteme) streng geschieden, so sind jetzt beide eng in eins gefaßt. Nicht Doxai werden aus dem Schlummer erweckt und durch den Hinzutritt des Logos erst zur Episteme erhoben, sondern was aus dem Schlummer geweckt wird, ist bereits Episteme, und die hinzutretende Rechenschaft des Verstandes (76 B) ist nur die Probe darauf, daß man die Erkenntnis hat. Das ennoêsai, in Gedanken fassen, Erdenken (gleich Sichbesinnen, Anamnesis) ist die entscheidende Funktion der Erkenntnis. Es besteht darin, daß wir »das« Gleiche »selbst«, und so »das« Schöne, Gute, Gerechte, Heilige (75 CD) gedanklich voraus (proeidota, proeidenai 74 E) erfassen, um die Daten, nicht etwa der Doxa, sondern der Aisthesis darauf »zurückzubeziehen« (anoisein 75 AB) und so ihren Gehalt zur Erkenntnis zu bringen. Die »Rechenschaft vom Grunde« (aitias logismos, wie im Meno) tritt also nicht als ein Zweites zu einer grundlos aus den verborgenen Quellen der Psyche hervorbrechenden Doxa erst hinzu, sondern was aus diesen Tiefen heraufgeholt wird, ist selbst der Rechenschaft gebende Grund, und nur das Besinnen, daß und wie es sich als Grund bewährt, nämlich durch die Entwicklung des Grundes in die Folgen, tritt erst hinzu und will gelernt und geübt sein (76 B), setzt aber voraus, daß wir die entscheidenden Gründe, nämlich die »Wesenheiten« der Eide, »in uns selber finden« als »voraus vorhanden, unser eigen« (hyparchousan proteron aneuriskontes hêmeteran ousan 76 E). »Unser«, das heißt der »Psyche selbst« (autês estin hê ousia 92 E). Mit der »Psyche selbst« erschauen wir die »Sachen selbst« (autê tê psychê theateon auta ta pragmata 66 E), die reinen Onta (ho ti an noêsê autê kath' hautên auto kath' hauto tôn ontôn 83 B, ferner 79 C D). Mit »Psyche selbst« wechselt »Dianoia selbst« (65 DE, 66 A), die wieder zurückweist auf das logizesthai (65 D; dianoias logismô 79 A) oder logos didonai (78 D).

Die passive Doxa des Meno ist hier ganz verschwunden. Im Zusammenhang der Anamnesislehre kommt der Terminus Doxa überhaupt nicht vor. Dagegen steht vorher einmal (67 B) doxazein neben legein, entschieden in der Bedeutung des Urteilens (wie im Theaetet, s. w. u.). So auch hernach: emoi ... dedoktai (98 E), hypo doxês tou beltistou (99 A) und besonders (100 A): hypothemenos hekastote logon, hon an krinô errhômenestaton einai, a men an moi doxê toutô xymphônein, tithêmi hôs alêthê onta. Hier ist die Doxa ganz eins geworden mit dem grundlegenden, aus der Grundlegung des auto, des Eidos Rechenschaft gebenden, durch[476] eignes Urteil, ja eignes »Setzen« die Wahrheit entscheidenden Logos. Doxa und Logos scheinen völlig eins zu sein, die unmittelbare Vorstufe der Erkenntnis, ihr Kern, ihr Fundament, wenn nicht geradezu sie selbst.

Daß daneben auch die irrende Doxa begegnet (83 D, to adoxaston = to alêthes 83 E, scheinlose Wahrheit), ändert daran nichts. Denn auch der entwickelnde Logismos, der urteilende Verstand ist ja irrtumsfähig; es bedürfte ja keiner Entscheidung, wo kein Irren möglich wäre. Und nur mit diesem urteilenden, also irrtumsfähigen Verstande, nicht mit seinem letzten, fehllosen Reinheitsgrunde, wird die Doxa in eins gesetzt. Aber gerade in der Möglichkeit des Fehlens beweist sie ihre Spontaneïtät, eine rein passive, rezeptive Doxa wäre so unfähig des Fehlens wie die Aisthesis, aber eben damit auch unfähig der Wahrheit. Davon wird beim Theaetet noch zu reden sein. Worauf es aber hier ankommt, ist, daß im Urteil des Logos oder der Doxa die »Psyche selbst«, aus dem in ihr selbst, im reinen Selbstbesinnen ihr bewußt gewordenen Einheitsgrunde, über die Onta »selbst« urteilt und somit wahrheitsfähig ist. Von bloßer Passivität kann hier nicht die Rede sein. Passiv, rezeptiv ist allein die Aisthesis, rein aktiv der Logos oder die Doxa. Auch daß in ihnen die »Psyche selbst« die reinen Wesenheiten als »voraus vorhanden« findet, besagt nichts von Passivität. Denn sie findet sie als von Haus aus ihr selber eigen, entdeckt sie, rein indem sie sich auf sich selbst besinnt, und entdeckt zugleich sich selbst, indem sie in ihnen den eignen reinen Grund wiederfindet. Mehr, die Psyche entdeckt sich selbst letzten Grundes als Eidos (auto to tês zôês eidos 106 D), und wird so, zugleich mit dem Ewigkeitsgrunde aller Wahrheit, alles Seins, ihres eignen Ewigkeitsgrundes sich bewußt, sie steht so ganz im Ewigen, nicht bloß ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und so fällt nun ganz in Eins zusammen die Gewißheit über das Sein der reinen Wesenheiten und über den Ewigkeitsgrund der Psyche. Diese unmittelbare Folgerung aus dem »Vorfinden« der reinen Wesenheiten als »voraus unser eigen« (76 D – 77 A) beweist klarer als alles die reine Aktivität, in der dieser letzte Seins- und Erkenntnisgrund zugleich der Wesenheiten und der »Psyche selbst« gedacht ist.

Dennoch ist der alte Dualismus des Ewigen und Vergänglichen hier noch keineswegs ganz überwunden. Für den Meno war er noch die ganz selbstverständliche Voraussetzung[477] Die Psyche blieb in der Nacht des Zweifels und des Irrtums tief befangen; nur vereinzelt fiel in sie, wie aus einer andern Welt, hin und wieder ein Strahl jenseitigen Lichts. Der Ewigkeitsgrund der Psyche tat sich darin wohl auf, aber noch faßte sie nicht den Mut, sicher darauf zu bauen, daß sie damit nun sich selbst gefunden hatte, sich selber offenbar geworden war als Selbstquell der Wahrheit. Was ihr hell geworden, blieb ihr nur glücklicher Fund je einer einzelnen Sache, allenfalls eines weiter zu verfolgenden Weges zu rechter Erkenntnis und rechtem, das ist erkenntnismäßigem Leben, welchen Fund es nun gelte zu bergen und fruchtbar zu machen. Nicht aber war es erkannt als ihre ureigne Tat, in der ihre Selbstheit, nichts Fremdes mehr, sich aussprach. Die Passivität der Doxa im Meno ist aber ein Ausdruck der noch ganz unüberwundenen Dualität des Jenseitigen und Diesseitigen, wie sie namentlich den Gorgias (und den Phaedrus?) noch durchaus beherscht. Der Phaedo galt sonst und gilt wohl vielen heute noch als vielleicht der stärkste Ausdruck eben dieses Dualismus. Aber am Ende findet er so leidenschaftlichen Ausdruck in ihm gerade darum, weil PLATO jetzt bereits mit ihm ringt, alles daran setzt, ihn zu überwinden, aber ihn noch nicht überwunden hat. Das aufs stärkste sich aussprechende, brennende Verlangen nach einem letzten, durch nichts zu erschütternden Gewißheitsgrund, hinaus über alle bloßen Wahrscheinlichkeiten (92 C ff., vgl. 90 C), nach dem rettenden Balken im Schiffbruch des Zweifels (85 C), läßt, bis zur letzten, großen Beweisführung (96 ff.), das sichere Vertrauen in die gelungene Rettung noch nicht recht aufkommen. Die neuen Bedenken der beiden redlichen Thebaner geben vielmehr der immer noch unbeschwichtigten Sorge rückhaltlosen Ausdruck: es möchte, so sicher der Welt des Vergangs eine Welt des Ewigen fortan gegenübersteht, und so sicher diese, durch die Erkenntnis der reinen Wesenheiten, in die Psyche des Menschen hineinragt, dennoch zuletzt diese menschliche Psyche auf der Seite des Vergänglichen bleiben, des Ewigen zwar bedingt teilhaft, aber damit noch keineswegs selbst vor dem Vergang sicher. Und wird denn dieser Zweifel durch die letzte, gründlichste Deduktion wirklich und endgültig behoben? Die Absicht geht hier unwidersprechlich auf eine Überbrückung der Kluft zwischen Jenseits und Diesseits, Sein und Werden. Der Seinsgrund der Eide soll, durch die sichere Methodik der Hypothesis, zugleich als Grund des Werdens und Vergehens[478] festgestellt, dadurch die sichere Gegründetheit des letzteren selbst im Gründe des Ewigen ausgemacht werden. Damit wäre dann erreicht, daß die Psyche, wie tief auch in die Welt des Vergangs mitverflochten, dennoch, und zwar grade in ihrer letzten Selbstheit, zugleich im Ewigen so fest verwurzelt ist, daß sie ihren eignen Vergang nicht mehr zu fürchten braucht. Die entscheidenden Voraussetzungen zu solchem Schluß liegen im Phaedo vielleicht vor; aber daß der Beweis, in diesem Sinne, überzeugend geführt wäre, läßt sich nicht behaupten. Was, abgesehen von allem, was im Besondern anfechtbar bleibt, zu diesem Beweise fehlt, ist eine zulängliche, der ganzen Tiefe des Geforderten genügende Methodik der Bewältigung des zeitlichen Geschehens, der Tatsache der Veränderung selbst, durch die reinen Grundlegungen des Denkens. Der Weg dahin ist mit der Methode der »Grundlegungen« zwar eingeschlagen, aber ihre Entwicklung reicht nicht durch bis zum Letzten. Gezeigt ist die Möglichkeit des Werdens und Vergehens nur im Sinne des Nichtwiderspruchs gegen die reinen Setzungen des Denkens, aber aufgedeckt ist nicht der positiv sichernde Grund ihrer Notwendigkeit; vor allem nicht, daß der Vergang selbst nichts nur Verneinendes, sondern, als Gegenseite des Werdens, für dieses geradezu bedingend ist. Erkannt ist nicht das »Stirb« als die Bedingung des »Werde«. Solange aber ist die Rettung vor dem Gespenst des Vergangs nicht endgültig gewonnen, sondern sie scheint immer noch fraglich zu bleiben. Und am Ende beruht der Eindruck der Tragödie, den das Werk als Ganzes hinterläßt, gerade darin, daß es bis zuletzt im Kampfe der hochgehenden Wogen, in der Gefahr eines letzten Versinkens schweben bleibt, und nur in der unerschüttert heiteren Ruhe der Persönlichkeit seines Helden die innere Gewißheit, daß die Gefahr bestanden werden wird, triumphiert.

So der Phaedo. Ihm aber steht, in der Auffassung der Doxa, wie in allem, was damit zusammenhängt, unter allen übrigen platonischen Werken keins so nah wie der Theaetet. Es bestätigt sich gerade hier wieder, daß der Phaedo, was den Erkenntnisbegriff betrifft, ganz auf den Voraussetzungen fußt, die im Theaetet und nur in ihm nicht nur ganz in gleichem Sinne ausgesprochen, sondern in so gründlicher Beweisführung, wie sie PLATO sonst selten für nötig erachtet hat, entwickelt und gesichert sind.32[479]

Scharf und entscheidend ist hier erstens die Stellung der Aisthesis zur Episteme ganz in dem Sinne festgelegt, wie sie im Phaedo, im Staat und überall sonst von PLATO festgehalten wird. Entscheidend nicht für PLATO allein, sondern für jede Begründung der Erkenntnis, die in der Bahn des Idealismus verbleiben will, ist nicht bloß die negative Feststellung: Erkenntnis ist nicht Aisthesis, Aisthesis nicht Erkenntnis, sondern ebensosehr die höchst positive: Nicht anders kommt die Funktion des Denkens, die allein Erkenntnis begründet, zur Ausübung als an dem Problem, an der Frage, das heißt an der schwebenden Unbestimmtheit der Aisthesis, welche, eben zu ihrer Bestimmung, das Denken fordert, übrigens für den Ausfall dieser Bestimmung nichts weniger als gleichgültig, sondern geradezu ausschlaggebend ist, sie von Punkt zu Punkt ihres Fortgangs allein möglich macht, aber eben nur möglich macht, nicht selbst vollzieht.33 Die Aisthesis bleibt materiale Bedingung der Erkenntnis; sie allein stellt die Fragen, auf die sie zu antworten hat; sie vertritt das x der Gleichung der Erkenntnis, dessen Sinn ja nicht absolute Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit ist, durch welches vielmehr, zufolge der Beziehung zu den Bestimmtheiten a, b, c, ..., in die es durch die Gleichung gesetzt[480] wird, seine Bestimmung unausweichlich voraus so bedingt wird, daß sie nur so, nicht anders ausfallen kann. In diesem Sinne ist die Aisthesis in der Tat »unfehlbar« (160 D), »entscheidend«; doch nicht als ob sie selbst urteilte, sondern grade indem sie nicht urteilt, aber der Entscheidung des Denkens bestimmte, unüberschreitbare Grenzen zieht. Sie ist also selbst nicht Erkenntnis, die aber ohne sie gar nicht in Funktion treten und zu keiner Bestimmung überhaupt gelangen würde.

Scharf und entscheidend festgelegt ist zweitens die Leistung des Denkens, als eben diese des Bestimmens und zwar in gewissen, durchaus feststehenden Grundbestimmungsweisen, die sich ausprägen in den nichts Materiales einschließenden, also aus der Empfindung nicht herleitbaren Aussagen (Aussageweisen): Es ist, es ist nicht, es ist dasselbe oder nicht dasselbe, Eines oder so und so Vieles, qualitätsgleich oder ungleich, und so fort. Diese können gar nichts Äußerem entnommen, sondern auf es nur angewandt werden; sie bedürfen darum auch nicht, wie die Empfindungen, je eines besonderen, nach außen gerichteten Organs, sondern entstammen notwendig »ihr selbst der Psyche« (185 B), aus deren spontaner Kraft34 sie sich ursprünglich, unvermittelt durch irgend etwas ihr Fremdes, als ihr reiner eigener Akt, nämlich der Ineinsbeziehung (184 D) auswirken. Nur in Kraft dieser, im Unterschied von der Aisthesis also rein aktiven Funktionen des Bestimmens gibt es überhaupt ein Eines und Selbiges, ein »An-sich-selbst« (auto kath' hauto 152 D, 153 E, 156 E, 182 B u. ö.), und damit ein »Dies« oder »Das«, »So« oder »Nichtso«, »Es ist« oder »Es ist nicht«, ein ungeteilt und unteilbar (punktuell) Eines, Einziggestaltetes35, d.h. auf einzige Weise Bestimmtes. Dadurch wird jede Herkunft aus einer nur hinterherkommenden Synthese ursprünglich geschiedener, schon zuvor gegebener Bestimmtheiten ausgeschlossen. Solche strenge »Einheit« der Bestimmung kann nur aus dem Zentralpunkt der »Psyche selbst« hervorgehen, indem sie die ihr wesentliche[481] Funktion der Einheitssetzung auf das von sich aus durchaus bestimmungslose Apeiron (183 B) der Aisthesis ausübt.

Diese, somit Erkenntnis (Episteme) allein begründende, schlechthin ursprüngliche Funktion der Psyche wird aber nun definiert als: Denken (dianoeisthai, dianoia), Setzen in Gedanken (tê dianoia rithesthai 189 D), als Logos (auch syllogismos 186 D, analogizesthai, analogismata 186 AC), als Richten, Urteilen (auf Grund eines »Zurücktretens und Vergleichens«, epaniousa kai symballousa, pros allêla koinein); wobei man sich erinnern wird, daß nach der maßgeblich urteilenden Instanz (dem kritês, kritêrion, der krisis) fort und fort schon gefragt war (160 C, 170 D, 178 BE, 179 A); dann aber, was uns hier vornehmlich angeht, als Doxa (187 A ff., 189 E, 190 AC u. f.), die demnach mit Logos, Dianoia, also auch Episteme hier fast identisch erscheint.

Und doch kann die völlige Gleichsetzung von Doxa und Episteme nicht beabsichtigt sein, denn das Endergebnis der Untersuchung lautet ja: Erkenntnis ist so wenig bloß rechte oder wahre Doxa wie Aisthesis. Warum? – Noch wie etwas Selbstverständliches erscheint die erste Einschränkung: Wahrlich nicht jede Doxa kann beanspruchen Erkenntnis zu sein; es gibt – das wurde ja immerfort dem PROTAGORAS entgegenhalten – ohne allen Zweifel auch falsche Doxa. Also eben nur – die wahre. Aber das führt in einen lächerlichen Zirkel, denn eben dafür, ob die Doxa wahr oder falsch ist, bedarf es der entscheidenden richterlichen Instanz. THEAETET aber erhebt diesen wahrlich naheliegenden Einwand merkwürdigerweise nicht, er kommt nur gelegentlich (doch wieder und wieder, 196 E, 199 D, 210 A) zutage in der folgenden, scheinbar einen Seitenweg einschlagenden Untersuchung darüber, wieso denn die Doxa falsch sein kann. Sie muß es sein können, daran ist kein Zweifel, die gegenteilige Annahme würde sie auf die Stufe der Aisthesis wieder herabdrücken; so wie ja PROTAGORAS fort und fort, aus seinen Voraussetzungen auch mit größtem Recht, für jede Doxa eines jeden die gleiche unantastbare Wahrheitsgeltung in Anspruch nahm. Das wird für jede über das augenblicklich Empfundene hinausgehende Doxa sofort zum baren Unsinn. Aber es kann auch für den unteilbaren Punkt der Empfindung nicht gelten, wenn doch die Identifikation, also auch die Punktualität der Empfindung, allem Bewiesenen zufolge, der Entscheidung des Denkens – also der Doxa – unterliegt; während diese selbst, so wie sie hier beschrieben[482] wird, irgendwelcher Gebundenheit an den Punkt des Gegebenen (wie überhaupt an ein solches) offenbar unfähig, ihrem ganzen Sinn nach frei beweglich sein muß.36 So wird die Möglichkeit des Fehlens geradezu zum Vorzug der Doxa. Sie darf nicht voraus entschieden, sie muß gleichsam außerhalb der Parteien sein, um selbst die Entscheidung geben zu können. Die Alternative, die Frage, das Schwanken, Schweben zwischen den zwei Möglichkeiten: Es ist, Es ist nicht (distazein 190 A) ist für sie wesentlich, es ist die Bedingung gerade ihres rein aktiven, spontanen Charakters. Aber um so mehr bedarf es dann einer festbleibenden Entscheidungsinstanz, eines »Maßes« oder »Kriteriums«. Dieses kann, da doch eben die Doxa seiner bedarf, nicht die Doxa selbst, es muß eine Instanz über ihr sein. Eine solche aber weist der Theaetet nicht auf, darum kann hier die Frage der Möglichkeit der Erkenntnis zur radikalen Lösung nicht gelangen. Der Gegensatz der reinen Unbestimmtheit der Aisthesis: die rein bestimmende Kraft eines nicht mehr diskursiven, beweglichen, sondern in reiner, unbewegter Schau ruhenden Urdenkens, ist hier noch nicht sicher erreicht, obschon gefordert, ebendamit auch das zwischen beiden stehende, frei bewegliche, vom unbewegten Zentralpunkt nach der unendlich schwebende Peripherie hin gleichsam seine Kreise beschreibende »diskursive« Denken noch nicht zu zweifelsfreier Bestimmung gebracht. Jedenfalls THEAETET ist darüber nicht im klaren, er steht deshalb ratlos vor der Frage der pseudês doxa, die Doxa muß ihm unentrinnbar, so sicher er sie vorher von der Aisthesis zu scheiden vermocht hatte, dann doch immer wieder auf die Stute der Aisthesis zurückfallen, sie muß ihm wie eine zweite, nur eben innerlich in der »Psyche selbst« verbleibende Bemerkung, wie ein zweites passives, rezeptives, materiales Vermögen erscheinen und ihn dadurch in geradezu peinlicher Weise in handgreifliche Zirkel und sonstige logische Wirrnisse nur immer tiefer verstricken.

Und damit bleibt nun, im Theaetet wie im Phaedo, auch der Dualismus zuletzt unüberwunden. So klar es dem[483] mitdenkenden Leser sein muß, daß er überwunden werden muß – es scheint noch immer, als gebe es nur eins von beidem: gänzlich haltlose Bewegung, oder starre, tote Ruhe, oder gar dies beides, deren jedes für sich unmöglich ist, ohne Ausgleich und Vermittlung nebeneinander. Den Ausgleich: die Ruhe der Bewegung, Bewegung ausruhendem Grunde, Einung des Mannigfaltigen, Vermannigfaltigung des Einen, hätte vielleicht gerade die Doxa nahelegen können. Vielleicht steht dergleichen wirklich im Hintergrund, vielleicht mag es zwischen den Zeilen gelesen werden können. Aber in den Zeilen steht es nicht. Vor allem eine Methode solcher Vermittlung ist nicht aufgewiesen, nicht auch nur angedeutet, geschweige begründet. Und so bleibt die Frage der Möglichkeit der Erkenntnis, nicht aus bloßer pädagogischer Absicht, sondern aus ganz ernster eigener Ratlosigkeit des Autors, trotz aller sicher erreichten Errungenschaften, ungelöst. Galt vom Phaedo, dem letzten Ergebnis nach, Ähnliches, so bedeutete doch die Hypothesislehre einen unverächtlichen, keineswegs fruchtlosen Anlauf zum Weiterkommen. Daß der Theaetet aber auch davon nichts ahnen läßt, geschweige die damit angebahnte Lösung weiterführt, spricht wieder sehr stark dafür, daß man in ihm eine Vorstufe des Phaedo, nicht einen Schritt über ihn hinaus zu erkennen hat.

Einen entscheidenden Fortschritt in dieser Richtung läßt aber auch der Phaedrus nicht erkennen. Die erste Gegenrede mit der SOKRATES die Rede des LYSIAS übertrumpft, spricht ungefähr nach der Weise des Meno von einer durch Erziehung »erworbenen Doxa«, strebend nach dem Besten und durch den Logos zu ihm hinleitend (237 DE, vgl. Phaedo 99 AB); ihr steht gegenüber die sinnliche Begierde, die ohne Logos (aneu logou, vorher alogôs) die zum Rechten (orthon) antreibende Doxa überwältigt und zur Lust treibt (238 A – C). Die »Palinodie« der zweiten SOKRATES-Rede setzt aber die so auf nous (vgl. 241 AB) und technê gegründete Tugend besonders der Sophrosyne auf eine niedere Stufe herab37, läßt sie übrigens für diese durchaus gelten: das (dem thymos des Staats vergleichbare) edlere Roß des Seelenzweigespanns ist alêthinês doxês hetairos (253 D, wonach 248 B trophê doxastê chrôntai sich deutet) und läßt sich durch Befehl und Logos willig zu allem Rechten, besonders[484] zur Sophrosyne leiten. Was aber nimmt für die höhere Ansicht, die dieser niederen gegenübertritt, die Stelle der Leitung durch Vernunft und wahre Doxa ein? Ein ekstatischer (existamenos 249 D), den Menschen über alles Irdische, bloß Menschliche mit einem einzigen gewaltsamen Ruck hinwegreißender Wahn, eine »Manie«, über drei untere Stufen zur höchsten, dem Eros, aufsteigend; im vollen Gegensatz zu 241 A (wonach nous und phronêsis, nicht erôs und mania regieren sollten) nicht durch nous (244 C) oder technê (245 A) erziehbar, sondern – göttliche Gabe (theia dosis 244 A), Besessenheit (katokôchê 245 A), Enthusiasmus (249 D, vgl. mantikê chrômenoi enthea 244 B). Das ließe sich ganz im Sinne des Meno verstehen, wo auch durch theia moira, katechesthai, enthousiazein, ohne Vernunft, unlernbar und unlehrbar, gerade die höchsten Leistungen dem Orakeldeuter, Seher, Dichter, Feldherrn, Staatsmann glücken sollten; allerdings mit einem hernach noch zu berührenden, vielleicht wesentlichen Unterschied.

Angesichts dieses bestimmten, kontradiktorischen Gegensatzes der Thesen der zweiten SOKRATES-Rede gegen die der ersten fällt es nun stark auf, daß in der den zweiten Teil des Gesprächs füllenden Untersuchung der Bedingungen einer wissenschaftlich zu begründenden Redekunst ganz in gleicher Schroffheit wie im Gorgias (an den man hier auf Schritt und Tritt erinnert wird) – Doxa gegen Aletheia (260 ff. bes. 262 B C), peithein gegen didaskein (277 C E, 278 A u. oft), atechnos oder alogos tribê gegen technê (260 E, vgl. Gorg. 465 A, 463 B, 501 A) oder Episteme, gegen das Walten der »Methode« (270 DE, ton technê metionta, vgl. 263 B metienai, hodô diêrêsthai) gestellt, somit genau das mit höchstem Nachdruck, in fast ermüdender Wiederholung, gefordert wird, was die zweite Rede zurückwies, ja wegwerfend, geradezu mit Verachtung behandelte. Wer diesen Forderungen der Wissenschaftlichkeit (das besagt hier philosophia) nicht genügt, ist nicht sophos, sondern doxosophos (275 B, ganz im wegwerfenden Sinn des Haftens an den anthrôpina doxasmata, 274 C). Echte »Philosophie« ist allein Dialektik, dialektikê technê (276 E, 266 C), im strengsten Sinne wissenschaftlichen, auf Zusammenfassung in der Begriffseinheit (synagôgê 266 B) und dann Zerlegung (diairesis) bis zum nicht mehr Zerleglichen (277 B) gegründeten Verfahrens, das nur durch gründliche, langwierige dialektische Schulung (273 E, 274 A) erreichbar ist.

So stehen hier zwei diametral entgegengesetzte Anschauungen vom Wesen der Erkenntnis ganz ohne Vermittlung nebeneinander.[485] Das leidenschaftliche Ringen nach logischer Methode, nach Beweis und Wissenschaft verwundert nicht, es war das Erbteil der Sokratik. Aber auch die schroff, ohne jede absehbare Möglichkeit einer inneren Vereinbarung dagegen gestellte Behauptung einer außer- und überrationalen, jenseitigen Erleuchtung ist dem Sokratischen nicht so fern, wie es scheinen mag; sein Daimonion wenigstens galt dem SOKRATES selbst durchaus als unmittelbare göttliche Leitung (theia moira, Apol. 33 C). Und auch im Meno begegnete ja die gleiche Anerkennung, in gleich schroffer Gegenstellung gegen die Forderung sicher gegründeter Wissenschaft, auch gleicher Zurückführung auf die Voraussetzung der Anamnesis. Insoweit steht der Phaedrus dem Meno ganz nahe.

Und doch muß jeder Leser den weiten Abstand empfinden, in welchem die hinreißende Schilderung der Auffahrt zum Überhimmel in SOKRATES zweiter Rede sich über jenes fast nur beiläufige Zugeständnis einer zweiten, irrationalen Erkenntnisinstanz neben der Vernunft im Meno erhebt. Mußte es schon dort auffallen, daß nicht bloß alêthês, sondern epistêmê, und damit »die Wahrheit von allem, was ist«, im Urgrunde der Psyche schlummert und nur darauf wartet, durch Fragen aus dem Schlummer geweckt und heraufgeholt zu werden, so erhebt sich vollends hier, in enthusiastischer Schau, ein reiner (akêratos) nous, eine echtere, die allein echte epistêmê über alles sonst etwa so Genannte, allen bloß »diskursiven« Verstand. Nur jenem ist das echte »Sein«, hoch hinaus über das, was »wir jetzt seiend nennen«, und damit die allein echte »Wahrheit«, nämlich die der ewigen Wesenheiten, erfaßlich (247 CD, 249 BC, 250 E). Das, und nicht bloß die glückliche, nur zu leicht wieder entschwindende Eingebung des günstigen Augenblicks, bedeutet jetzt die Anamnesis. Zwar, was darin erreicht wird, ist schließlich doch nichts andres, als was nach den Ausführungen des zweiten Gesprächsteils Aufgabe und Leistung der »dialektischen Methode« ist: die Einigung des Mannigfaltigen und zwar der Sinne zum Eidos kraft des Logismos (249 BC: xnnienai kat' eidos legomenon, ek pollôn ion aisthêseôn eis hen logismô xynairoumenon – durchaus entsprechend der annagôgê eiê hen oder eis mian idean, 265 f.). Wie aber auch dieser auffallende Kontrast eines fast fanatisch sich aussprechenden Rationalismus, Szientismus, Methodismus auf der einen, eines nicht minder fanatischen ja ekstatischen, aller Methode spottenden Irrationalismus und Intuitionismus auf[486] der andern Seite sich lösen, und wie es zu erklären sein mag, daß gleichwohl nichts als dieselbe Grundfunktion »synthetischer Einheit«, die im Eidos, in der Idea sich ausprägt – ja nichts als Logismos (das heißt doch Ratio) – hier wie dort walten soll: jedenfalls ist klar, daß hier – und man kommt nicht darüber hinweg zu sagen: hier zum ersten Mal, als etwas dem Schreiber selbst unerhört Neues, wohl nur darum in dieser handgreiflich unhaltbaren, am inneren Widerspruch unrettbar zusammenbrechenden letzten Ungeklärtheit – als schlechthin Jenseitiges (ekei gegen têde, 250 AB) die Überwelt des »seinhaft Seienden« über diese Welt des Werdens sich hinaushebt, ausgezeichnet durch alle die wesentlich verneinenden Prädikate, durch die auch der Phaedo, das Gastmahl, der Staat das Absolute nur zu kennzeichnen wissen. Vorschweben kann dabei, trotz der verwirrenden Vielgestalt, in der der Inhalt und Gegenstand der übersinnlichen Schau sich hier darstellt, zuletzt doch nichts andres, als was, ungleich geklärter, jene drei Werke und noch im späten Rückblick der Philebus aussprechen: im Unterschied von der Vielheit besonderer Einheiten (Onta, Eide, Ideai) die geforderte letzte Einheit der Einheiten,38 die, eben weil sie alle Teilung hinter sich läßt, auch über jede abgrenzende Formulierung hinausrückt und nur in fruchtlos sich selbst übersteigernden Pleonasmen wie ontôs on, ontôs ousa ousia, oder eben in bloß verneinenden Prädikaten, oder in Ausdrücken, die doch wieder nur je ein Moment aus dem Bereich des Vielen zu nennen wissen, sich nicht sowohl ausspricht als nach Sprache ringt. Aus sich verständlich ist dies alles im Phaedrus nicht. Hätte man nicht jene andern Schriften, man stände ratlos vor ihm. Je mehr man vergleicht, um so stärker fällt auf, daß weder von der gründlichen Durchprüfung der niederen Erkenntnisstufen Aisthesis und Doxa im Theaetet, noch von dem großen positiven Gewinn, den die Methodik der Hypothesis im Phaedo bedeutet, geschweige von der klaren Scheidung sowohl als genauen Wechselbeziehung zwischen den Bereichen der Hypothesis und des Ueberhypothetischen im Staat hier irgendeine deutliche Spur zu finden ist. Dies alles, für PLATO doch größte[487] und schwerste Errungenschaften, müßte wieder vergessen sein – oder es war eben, als das Werk erdacht wurde, ihm noch nicht errungen.

Das Letztere ist das allein Denkbare, das Erstere ist nicht denkbar. Unwidersprechlich ist doch PLATO in den späteren Stadien seines Philosophierens (nicht erst vom Parmenides ab) zu nur immer strengerer Vermittlung zwischen den beiden äußersten Enden vorgedrungen, die hier scheinbar ohne jedes Bedürfnis einer Vermittlung weltweit auseinanderklaffen. Es gibt, darüber ist nicht hinwegzukommen, im ganzen platonischen Schrifttum keine Stelle, wo der Dualismus des Diesseits und Jenseits in ähnlicher, durch nichts gemilderter, jeden Gedanken an einen Ausgleich geradezu abweisender Schroffheit auftritt und stehen bleibt, entschlossen den Vorwurf der Manie, der Verrücktheit, nicht nur zu tragen, sondern trotzig auf sich zu nehmen, alles dessen, woraus Menschen einen Ernst machen, sich zu entschlagen, um in jähem Aufflug »von hier dorthin« den Überhimmel der Wesenheiten zu erfliegen, ausschließlich ihm das Auge der Seele, und mit ihm die ganze, zugewandt zu halten, denn ihr ist ja ein »göttlicheres Teil« von Natur eigen (230 A). Wohl mögen einzelne Wendungen auch im Phaedo und Staat daran erinnern, aber dort ist daneben ein Ringen gar nicht zu verkennen, die Kluft doch irgendwie auszufüllen oder zu überbrücken. Davon ist im Phaedrus nichts zu spüren.

Nirgends hat PLATO so wie hier sein Innerstes bloßgelegt. Und doch kann auch nicht etwa die Absicht die eines Bekenntnisses sein, in dem einmal der Mensch ganz »in seinen Widerspruch« sich aussprechen mußte. Jeden Schatten solch eitler Selbstbeschau der eignen »Persönlichkeit« liegt PLATO hier so fern wie überall sonst. Ist es Selbstoffenbarung, so ist sie es ganz unbewußt und ungewollt; auch in dieser Unbewußtheit eher jugendlich als etwa an der Schwelle des Greisenalters denkbar, wo PLATO sich selbst in seinen Schriften nur immer tiefer verbirgt. An der einzigen Stelle, wo er, aus politischer Notwendigkeit, einmal ganz unverhüllt von sich selbst spricht, im siebenten Briefe, sagt er von dem Letzten und Höchsten seiner Philosophie, der »Idee des Guten«, rund und offen: daß darüber keine weder fremde noch eigene schriftliche Darstellung vollgültige Belehrung bieten kann, sondern einzig durch den lebendigen Austausch in der gemeinsamen Forschungsarbeit der Akademie die in keine abschließende Formel überhaupt[488] einschließbare, selbst urlebendige Gewißheit der Überzeugung sich übermitteln kann: rhêton gar oudamôs estin ôs alla mathêmata, all' ek pollês synousias gignomenês perito pragma auto kai tou syzên exaiphnês hoion apo pyros pêdêsantos exaphthen phôs en tê psychê gignomenon auto heauto êdê trephei (Ep. VII, 341 C). Von solch bewußter Zurückhaltung läßt die zweite SOKRATES-Rede wahrlich nichts verspüren; sie will einmal getrost, was wahr ist, auch sagen, weil es sich um die Wahrheit eben handele (297 C); sie unternimmt, in sich überstürzenden, immer überschwänglicheren Bildern und Gleichnissen das Unaussprechliche doch auszusprechen, ohne Andeutung der Selbsterkenntnis, daß dies eben doch mißlingt und gar nicht gelingen konnte, weil es eben Unaussprechliches ist, das nach Sprache ringt.39

Den entscheidenden Schritt zur Lösung des Konflikts tut das Gastmahl. Hier, und allem Anschein nach hier zuerst, ist die im Phaedrus noch weit aufgerissene Kluft geschlossen: ôste to pan auto hautô xyndedesthat (202 E).

In der Doxa, so wie sie im Theaetet klar wurde, war die schöpferische Aktivität des Logos zum ersten Mal aufgeblitzt, und zwar als die der »Psyche selbst«, die frei aus sich, an kein rezeptives Organ gebunden, aus aller Schwankung und Schwebe zum Urteil, zur Identität der Bestimmung sich durchringt zum Ausspruch: So ist es, so ist es nicht. Also, scheint es, zur Erkenntnis. Nur Eines hielt noch den Zweifel wach, und der Zweifel wurde im Theaetet nicht behoben: Wie ist es denn möglich zu denken, was nicht ist? Es wollte sich keine haltbare Lösung zeigen, vielmehr drohte die Doxa ganz wieder auf die Stufe der Aisthesis zurückzusinken; sie erschien noch immer, gleich dieser, als ein Erfassen des von außen sich Darbietenden.[489] Damit aber wurde das Verfehlen, das Nichtsein des angeblich doch Erfaßten so unerklärlich bei der Doxa wie bei der Aisthesis. Also konnte die Doxa so wenig wie diese Erkenntnis sein. So stand man ratlos.

Wie war denn hier eine Lösung denkbar? Die Doxa müßte ein Mittleres sein zwischen der reinen Nichterkenntnis der Aisthesis und der immer noch heiß gesuchten, nicht gefundenen reinen Erkenntnis: aktiv mitten im Bereiche der Abhängigkeit; bestimmend, aber von Punkt zu Punkt neu und anders, sodaß, was soeben sich als seiend, wahr aufgerichtet hatte, in neuer, einen Schritt weitergerückter Bestimmung in Nichtsein und Irrtum wieder zurückfällt. Diese Diskursivität des Denkens ist es, die im Theaetet sich noch verbirgt. Vielleicht daß ihre volle Enthüllung zur Klarheit geführt hätte. Klarheit war gewonnen über die beiden äußersten Enden: die schwebende Mannigfaltigkeit der Empfindungen auf der einen Seite, die fest und rein gezeichneten Urgestalten der »Wesen« auf der andern. Das Zwischenreich des Logismos, der Dianoia mußte wohl sein ein nur nicht mehr haltlos schweifendes, gesetz- und richtungsloses, sondern streng gerichtetes, nämlich zentral, von der ins Unendliche verschwimmenden Peripherie zum sicheren Zentrum der »einen Sicht« (mia idea) – oder vielleicht umgekehrt, vom Zentrum zur Peripherie? – gerichtetes Bewegen. Allein in der Flucht vor der drohenden Gefahr des Versinkens in dem flutenden Meer der unendlichen Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit strebt das schwankende Schifflein noch sich zurückzuretten zu den jedenfalls festen Ufern des »An-sich«, der unerschütterlich ruhenden Eide, der »im Sein dastehenden Musterbilder« (paradeigmata en tô onti hestôta 176 E). Aber eben so blieb der Dualismus unüberwunden. Was mußte das Dritte zwischen beiden denn sein, wenn er überwunden werden sollte? Nichts als eben dies: das Zwischen selbst. Reine, in sich bestimmungslose Materie auf der einen Seite, reine bestimmende Form auf der andern, jene nur bedingt, durchaus unbedingend, diese nur bedingend, durchaus unbedingt: im Unterschied von beiden mußte das Dritte sein: bedingt zugleich und bedingend, bedingt um zu bedingen, bedingt zu bedingen; daher weder schlechthin ruhend, mit Ausschluß aller Bewegung, noch schlechthin bewegt, mit Ausschluß der Ruhe, sondern ruhend in Bewegung, bewegt in dem dennoch, in der Festigkeit seiner Richtung, ruhenden Blick des Geistes. In solch paradoxer Koinzidenz der scheinbar sich ausschließenden[490] Gegensätze allein konnte die Lösung gefunden werden; kein Wunder, daß sie ihre Wunder dem heißen Sucher nicht sogleich erschloß. Und doch stand er schon dicht davor. Wirklich schlummerte eben darin der echte Akt, das lebendigste Leben der aus der Tiefe ihrer Selbstheit schöpfenden Psyche.

Nun, eben diese Lösung ist es, die, im Theaetet und Phaedo mannigfach vorbereitet, im Gastmahl erreicht wird, um von da ab nie wieder preisgegeben, nur immer weiter vertieft zu werden. Sie ergibt sich diesmal nicht im schweren Ringen eigentlich dialektischer Entwicklung, sondern in schlichter Aussprache: So ist es; indem DIOTIMA ununterbrochen führend vorangeht, SOKRATES, der sonst so frage bereite, unablässig prüfende, ganz gegen gegen seine sonstige Art, verwundert zwar – »Sollte es sich wirklich so verhalten?« (208 B) – doch willig und widerspruchslos folgt.

Eros war hoch gepriesen worden als Gott. Aber das ist er nicht, denn er ist nicht schön, gut, weise (201 E, 202 A), da er dahin ja erst strebt. Er ist gewiß auch nicht das Gegenteil. Also zwischen beiden. So zwischen Weisheit und Unwissenheit. Das Mittlere zwischen diesen ist Doxa, das Rechturteilen ohne Rechenschaft-geben-können. Denn das ist nicht Erkenntnis, weil ohne Rechenschaft, und nicht Nichtwissen, da es das Rechte doch trifft. Also zwischen beiden in der Mitte (202 A, 203 E). So bleibt der Eros auch in schwebender Mitte zwischen Gut und Ungut, Schön und Häßlich, Selig und Unselig, Unsterblich und Sterblich. Er ist nicht Gott sondern Dämon, ein Mittleres, darum Mittler zwischen Gott und Mensch, den Austausch, die »Dialektos« zwischen beiden vermittelnd, so daß die Kluft sich schließt, das Ganze zur Einheit verbunden ist (202 E). Darauf wird (was vielleicht auf den Meno und Phaedrus bewußt zurückweist) Wahrsagung, Beschwörung, Zauberkunst gegründet. Aus Bedürftigkeit (Penia-Aporia) und Erwerbstrieb (Poros) ist der Eros geboren, darum ist er um Vernunft bemüht, sie zu erwerben unablässig geschäftig, also wiederum nicht Sophos, aber Philosophos; immer sterbend und wiederauflebend, so auch an Geist weder dürftig noch reich, sondern in der Mitte zwischen Weisheit und Nichtwissen. Und da er Seligkeit nicht besitzt, aber umso mehr nach ihr strebt, so hat er sein Wesen in der Schöpfung, Poiesis, die, als Überführung aus dem Nichtsein ins Sein, am genauesten und positivsten die Eigenheit jenes geheimnisvollen »Zwischen« ausdrückt. Die Poiesis aber verschärft sich weiter zur Erzeugung (gennêsis, tokos 206 f.), die für das Sterbliche Unsterblichkeit, ewige Selbstverjüngung[491] bedeutet (aeigenes 206 E, neos aei gignomenos 207 D). In ihr beweist sich das Streben nach Möglichkeit immer zu sein und unsterblich. Das erstreckt sich auf alles Seelische sowohl wie Leibliche; was das Merkwürdigste: selbst auf die Erkenntnis, die das »Gedächtnis«, die Mneme nur wahrt in beständiger Selbsterneuerung, denn nur so erhält sich überhaupt das Sterbliche und hat an Unsterblichkeit teil, anders nicht (208 B). Daraus wird alle geistige Schöpfung: Technik, Gewerbe, Staatsordnung, Heldentum, Dichtung, Erziehung vor allem erklärt, und auf dieser Grundlage sodann der große Stufengang beschrieben, der von der Leibesschönheit durch die Schönheit all solcher geistigen Gestaltung hindurch40 zur höheren Schönheit der Wissenschaften, von diesen aber in letztzentraler Vereinigung zum reinen, absoluten Schönen, hinaus über alles Sinnliche nicht bloß und Zeit-Räumliche, sondern auch über Logos und Episteme, nämlich irgendwie noch abgrenzende, doch als zum Gegenstand einer höchsten Wissenschaft, und durch diese gerade zur Innersten, zentralsten, zeugenden Kraft sich zu erheben.

So ist das Zwischen nicht ein leerer oder mit irgendwelcher, sei es noch so vielgestaltiger Materie gefüllter Raum, sondern lebendige, in allem, zwischen allem, in allseitiger Wechselbeziehung wirkende Kraft; Kraft der Schöpfung, der Zeugung; vermittelnd im Sinne zeugender Gemeinschaft (xyneinai). Es ist zugleich Anschauung (theasthai), die aber in der gleichen Lebendigkeit in sich selbst zurückgewandter, sich selbst immer neu erzeugender Energie, nicht passiver Entgegennahme gedacht sein muß. Hier ist der strengste Sinn des reinen Aktes erreicht, hinaus aber alle bloße Abstraktion, in unerschöpflich schöpferischer, quellhaft ursprünglicher Lebens- und Gestaltungsfülle. Als Ziel wahrer »Philosophie«, als das »Sophon« selbst, enthüllt sich damit, nicht irgendein, wäre es auch allumfassendes, allvereinigendes, doch ruhendes, also totes Wissen und Haben der Weisheit, sondern lebendiges, aus Urgrund schöpfendes, zugleich schauendes Schaffen und Zeugen, im Sterblichen, aber in der allein wahren Unsterblichkeit ewig junger Wiedergeburt, im Leiblichen, Seelischen, Geistigen, kurz in allem, bis zum Höchsten hinauf. Darin ist nichts tot, der Tod selbst gründlicher bezwungen als in den mühseligen Unsterblichkeitsbeweisen[492] des Phaedo, die bestenfalls zu dieser tieferen Ansicht sich erst zu reinigen hätten. So ist das Sophon nicht getrennt vom Kalon und Agathon, sondern mit ihm ganz ungetrennt Eins. Auch die ergreifende Vorführung der Gestalt des SOKRATES durch ALKIBIADES stellt dies lebendig vor Augen in der völligen Einheit der Weisheit mit der inneren Schönheit und Güte in sich vollendeten Lebens und Tuns. Dieser SOKRATES ist nicht, wie der »Geburtshelfer« des Theaetet (150 C), agonos sophias, zeugungsunfähig an Weisheit – oder nur an der falschen; um so fähiger aber, ewig lebendige »Philosophie« in sich selbst und in Andern zu wecken und unablässig lebendig zu erhalten.

Hier zuerst ist der wahre Springpunkt nicht der Erkenntnis allein, sondern des Lebens, nicht des Einzelnen allein, oder bloß des Philosophen, sondern des Menschen, des Menschentums und seiner ewigen Selbstwiedererzeugung, das ist der Menschengeschichte getroffen; es ist erstmals der Grund gelegt zum tiefsten Sinn humaner Kultur41; zugleich – das ist im Grunde dasselbe – der Sinn der Idee erst ganz frei enthüllt. Als schöpferische Kraft ist sie unendlich mehr als was sie schafft. Lebendiger als alles Geschaffene, das selber nur lebt, sofern es weiter, immer weiter sich selbst wieder schafft, aus der gleichen Kraft, durch die es selbst geschaffen worden. Aller Tod ist gestorben, damit das Leben allein lebe.

Nur ein Ausdruck dafür, nicht der gewichtigste, ist die horthê doxa, ohne die Rechenschaftsablage, als alogon pragma. Wäre damit die Gleichsetzung von Doxa und Logos, vielmehr Ersetzung jener durch diesen, die uns im Theaetet und Phaedo begegnete, wieder preisgegeben? – Nein: von Anfang an war Doxa und Logos doch nicht völlig dasselbe; sondern Doxa das plötzliche Aufleuchten: So ist es! in der Psyche, Logos das Befestigen solcher sonst nur zu flüchtigen Aufklärung durch die vom Grunde zur Folge fort- oder von der Folge zum Grunde zurückschreitende Rechenschaft; aktiv, spontan aber dieser wie jene. Sonst möchte die Doxa wohl gar als das allein schöpferische Vermögen erscheinen, die Rechenschaft hinkte hinterdrein, könnte am Ende auch unterwegs bleiben. Aber sie selbst vollzieht sich in stetig fortgeführter Schöpfung, die Voraussetzung in der Folge, den Grund in dem darauf Gegründeten erhaltend und deren Kraft nur weiter und weiter tragend. So überbietet sie an schöpferischer Kraft bei weitem die flüchtige, gleichsam punktuelle Doxa, indem sie sie in gesetzmäßig bestimmte Linien[493] und Liniensysteme, in Gestaltungen mannigfachster Art im gedanklichen Raum (noêtos topos) entwickelt DIOTIMAS Ausführung als ganze ist dafür nur ein einziges wundervolles Beispiel, zum Folgen zwingend gerade durch die ruhige Sicherheit, in der die tiefsten und weitesten Durchblicke sich wie im leichten Spiel erschließen, um endlich das volle strahlende Licht überwältigend, beseligend hereinfluten zu lassen. Doch bleibt der schlichten Doxa die im Meno schon vorgebildete, im Theaetet klar begriffene hohe Bedeutung des plötzlich auf die Seele überspringenden Funkens, der dann »schon sich selbst nähren wird«, um die ewig ruhiges Licht spendende Flamme lebendig zu erhalten. Es ist das zeugende Nu. In der Punktualität des Metaxy, des Meson, des Exaiphnes liegt die ganze, recht eigentlich paradoxe Eigenheit der Doxa, ihre »widersinnische« doch schlechthin notwendige Zweideutigkeit des Treffens und doch Verfehlens, Seins und doch Nichtseins, der Wahrheit und doch Falschheit, Erkenntnis und doch Nichterkenntnis. Sie trifft eigentlich und löst das alte ZENO-Rätsel der Bewegung durch die Koinzidenz des Plus und Minus im bloßen Durchgangspunkt der Null, in den und aus dem wird, was immer wird. So offenbart sich in ihm der wahre, schöpferische Ur-sprung, der doch nichts überspringt, sondern in sich selbst den Zusammenhalt, die Kontinuität herstellt und damit die festigende, den Gedanken zur Ruhe bringende Rechenschaft des Logos erst ermöglicht. Es ist, im geometrischen Bilde, der Krümmungspunkt der Kurve. Als Punkt scheint es jede Mehrheit der Richtungen auszuschließen, insofern ist die Doxa stets identisch gerichtet, orthê, »recht«, gerade; und doch eben im Punkte vollzieht sie die Umbiegung, wandelt die Richtung, verneint also, und zwar zugleich, wiederum die Identität, die sie selbst gesetzt hat, nein schon im Augenblick des Setzens selbst; und gerade so, in diesem steten »Stirb und Werde« gründet sie die ewige Ruhe der Usia, Aletheia, Episteme, als Ruhe der Bewegung, Bewegung der Ruhe selbst. Und damit stehen wir unmittelbar vor dem Eidos, der Idee. Und das Gleichnis der Kurve vertieft sich. Sei es zuerst der heraklitische Kreis, der Anfang und Ende kraft der Koinzidenz ineinanderschlingt, so muß, indem der Fortgang selbst nicht steht sondern weiter schreitet, indem die Kreisung selbst wieder kreist, der Kreis sich zur Spirale weiten. Überträgt sich dann, aus der gleichen Notwendigkeit sich unendlich fortentwickelnder Bezüglichkeit, die Konstruktion in weitere und weitere Dimensionen,[494] so ergeben sich unerschöpflich neue Gebilde im unendlich sich selbst potenzierenden Raume des Gedankens, in überschwänglicher Freiheit der Gestaltung. Das sind die Eide, die Ideen – Durchblicke nannten wir sie. Es sind ebensoviele »Einheiten« (Henades, Monades, Phileb.); Einheiten der Sicht (je eine: mia tis idea). Aber hinter ihnen allen, ihnen zugrunde liegt – nicht das bloße leere Projektionsfeld des Topos (Tim.), sondern der einende Ur-Grund – wie soll man ihn nennen? Einheit der Einheiten (Einheit »selbst«), Idee der Ideen (Idee »selbst«)? Jeder Ausdruck erweist sich alsbald unzulänglich; jeder gibt die »Sache selbst« (auch wieder ein ebenso unzulänglicher Ausdruck!) nur gleichsam von unten gesehen, sagt bestenfalls, was es nicht ist, nicht, was es ist – rhêton gar oudamôs estin. –

Was hiermit, vielleicht weit vorgreifend, zu sagen versucht wurde, läßt wohl alles das »Gastmahl« schon durchblicken; heller noch leuchtet es durch im Staat. Da wird zuerst (476 ff.) die Doxa als das Metaxy in fast umständlich genauer Ausführung wiederaufgenommen. Wie Erkenntnis sich bezieht auf das, was ist, so volle Nichterkenntnis auf das, was in keinem Sinne ist Gibt es nun etwas zwischen reinem Sein und absolutem Nichtsein, so wird es Objekt sein für eine Dynamis zwischen reiner Erkenntnis und völliger Nichterkenntnis; diese ist die Doxa Es muß doch irgendetwas sein, auf das sie sich richtet oder bezieht (478 B: ho doxazôn epi ti pherei tên doxan). Es ist also das Objekt der Doxa, das doxaston, etwas, das gleichwohl im strengen Sinn weder ist noch nicht ist, doch auch wieder gewissermaßen zugleich ist und nicht ist (478 D), also an beidem teilhat (E), rein aber weder das Eine noch das Andre ist, sodaß man weder sicher in Gedanken fassen kann, es sei, noch, es sei nicht, noch beides, noch keins von beiden (479 C).

So könnte die Doxa ganz wieder in die haltlose Unbestimmtheit der Aisthesis zurückgeworfen scheinen. Doch vermag auch ein Blinder seinen Weg recht zu wandeln; so ist es mit dem, der die wahre Doxa hat, doch ohne das Licht der Vernunft (506 C, vgl. Phdr. 270 E). Und nichts andres ist der Psyche erreichbar, solange sie in dem aus Licht und Dunkel gemischten Bereiche des Werdens und Vergehens sich aufhält (508 D); in solch »nächtigem Tag« (521 C) bleibt ihr nur dieser matte Schimmer von Wahrheit. Aber doch gleicht, was sie so erfaßt, dem rein gedanklich erfaßbaren Wahren sich an; der Gegenstand der Doxa verhält sich zu dem der Gnome doch wie das Angeglichene[495] (omoiôthen) zu dem, dem es sich angeglichen hat (hô ômoiôthê, 510 A). Als eine Zwischenstufe zwischen Doxa und Nus tritt dann die (sonst von ihr kaum unterschiedene) Dianoia auf. Sie vertritt hier die Erkenntnisweise der Geometrie, die sich auf »Hypothesen« stützt, von denen sie – seien sie auch reinem Denken erfaßlich, wenn auf ihr »Prinzip« zurückgeführt – nur Gebrauch macht, ohne von ihnen Rechenschaft (eben aus ihrem Prinzip) zu geben (510 C), als wüßte man sie: um dann, wie wenn sie selbst Prinzipien wären (ek toutôn archomenoi), Folgerungen in strenger Einstimmigkeit (homologoumenôs) abzuleiten und so auf das hinauszukommen, auf dessen Untersuchung man ausging. Dabei nimmt man überdies Konstruktionen im Sichtbaren zuhilfe, obgleich man nicht wirklich diese, sondern die reinen Denkgebilde im Sinne hat (dianooumenoi); eine bloße Homologie (formale Zusammenstimmung von Sätzen), die doch nicht etwa Erkenntnis heißen dürfte (533 C) – bis man sich entschließt die Hypothesen »aufzuheben« (ebenda), über sie hinaus, höher hinauf zu gehen (511 A) zum Prinzip »selbst«, um in ihm Sicherheit zu gewinnen (533 D). Damit gelangt man erst vom »nächtigen Tag« der Doxa und dem ersten Dämmerlicht der Dianoia zur vollen Tageshelle der Episteme vermöge der »dialektischen Kraft« (533 C). Somit verhält sich der Gegenstand der Doxa zu dem des Nus wie das Werden zum Sein, und wie die Doxa zum Werden, so der Nus zum Sein (534 A). Die Doxa selbst spaltet sich in Pistis und Eikasia, die in ihrem Bereich sich wieder verhalten wie Nus und Dianoia in dem des reinen Denkens. So erreicht die Doxa, zumal als Pistis, doch ein unverächtliches Maß positiver Geltung. Aber auch das bildliche Vorstellen (Eikasia) ist nichts nur Negatives, vermag es doch selbst der Geometrie bei ihrem hypothetischen Vorgehen wenigstens zum Anhalt zu dienen. Und diese wenn auch bedingte Positivität der Doxa wird gerade in den späteren Schriften unablässig betont.42[496]

Bei allem aber, was im Gastmahl und Staat erreicht ist, würde es an der letzten Klarheit doch noch fehlen, wenn nicht, auf Grund der tiefdringenden Untersuchungen des Parmenides, der Sophist sie erbrächte, in dem das Problem des Scheinens und nicht Seins, also der Doxa zunächst im objektiven, dann aber auch im subjektiven Sinn, geradezu im Mittelpunkt steht. Was hülfe es zu wissen, daß in der Doxa eine Verflechtung von Sein und Nichtsein, von Wissen und Nichtwissen jedenfalls liegt, wenn unerklärt bliebe, worin sie besteht und wie sie möglich ist. Aber auch die beiden äußersten Enden, das reine Sein wie das reine Nichtsein, also auch das reine Wissen und reine Nichtwissen, geben zu ernsten Zweifeln noch Grund genug, sodaß auch von dieser Seite der bloße Begriff des »Zwischen« keine letzte Klarheit bringen kann. In scharf eindringender Erörterung erweisen sich jetzt beide, das Sein, das alles Nichtsein, das Nichtsein, das alles Sein ausschlösse, gleich undenkbar, unaussprechlich (s. o. S. 284 ff.). Für uns jedenfalls sind beide nichts. Im überschwänglichen Lichte des reinen Seins würden wir vor Blendung nichts erkennen (vgl. Phaedo 99 E), im gänzlich lichtlosen Dunkel des absoluten Nichtseins vollends erblinden (254 E). Ähnliches gilt von der absoluten Ruhe, in der Leben, Seele, Vernunft zunichte würden, und der absolut ruhelosen Bewegung (248). Man muß also Beides gelten lassen (249 C D xynamphotera), das heißt aber nicht bloß, das Eine so gut wie das Andre, sondern: das Sein und das All ist zugleich Beides43, seiner eignen Natur nach nicht das Eine oder das Andre (250 C). An die Bedingung der Möglichkeit solcher Verflechtung (mixis, xymmixis = koinônia, methexis, 251 ff.) vermeintlich unvereinbarer weil gegeneinander kontradiktorischer Bestimmungen aber, als allemal des »Einen« und »Andern«, ist die Möglichkeit des Urteilens und damit überhaupt eines »Es ist« schlechthin gebunden, die ohne das ganz entfiele; denn Urteil schließt stets[497] ein, daß Etwas etwas Andres ist, also ein Sein des Nichtseins und damit auch Nichtsein des Seins. Die Koinzidenz kontradiktorischer Bestimmungen ist daher mit der Natur der »Gattungen« nicht bloß verträglich (254 B), sondern gradezu in ihrem Wesen enthalten (257 A); die Antithesis der Anteile an Seinsbestimmtheit und Andersheit zugleich macht das Wesen dessen, was überhaupt Wesen hat, geradezu aus (258 B). So erstrecken und zerstücken sich also unumgänglich beide (und damit auch Stillstand und Bewegung, 250 B) unterschiedslos auf alles, gehen durch alles hindurch (259 A); ohne das wäre aller Logos, aller Sinn der Aussage aufgehoben (259 E, 260 A). So aber begründet sich nun auch die sehr positive Tatsache der Falschheit, des Irrtums, und damit Dianoia, Doxa, Phantasia (263 f). Damit ist das Rätsel des Theaetet aufgelöst, auf Grund der alles entscheidenden, hier eher erst im tiefsten Sinne geklärten Feststellungen des Gastmahls und des Staats. Begegnen hierbei nicht gerade die Ausdrücke metaxy, meson, exaiphnês, so fehlen auch diese nicht in dem Dialog, auf dem der »Sophist« durchweg fußt, dem Parmenides (exaiphnês 156 D, 164 D, metaxy 152 BC, 156 D, 157 A). Ebendort wurde ja auch schon die Verflechtung des Seins und Nichtseins, des Einen und Nicht-Einen (der hetera physis tou eidous 158 C = ta alla tou henos) als Bedingung aller Möglichkeit der Aussage, sowie insbesondere der Phantasia und Doxa (164 f.) klar herausgestellt, wobei die Doxa in die Dionoia und Noesis fast stetig hinüberfloß (s. o. S. 275). Mit dem allen aber ist die große Lehre des Philebus (bes. 15 – 17) über Peras und Apeiria genau vorgezeichnet, fast schon gegeben; wobei die entscheidende Rolle des metaxy (16 D metaxy tou apeirou te kai tou henos, hernach mixis, ximmixis etc., wie im Soph.) von neuem bekräftigt und tief entwickelt, der Begriff des Gesetzes (bes. 26 B), nach seiner vollen, universalen Geltung, ganz heraklitisch, in der Symmetrie oder Symphonie der Gegensätze (25 D E pauei pros allêla tanatia diaphorôs echonta, symmetra de kai symphôna entheisa arithmon apergazetai) begründet und durch dies alles die letzte Rationalität des vermeintlich Irrationalen, die Göttlichkeit des Kosmos, das Walten von Leben, Seele, Vernunft, Gottheit in ihm, ganz nach den Verheißungen des »Sophisten«, für immer festgestellt wird. –

Schien es, als dies Buch entstand, geboten, die Untersuchung in unbiegsamer Strenge auf Logik, auf Dialektik ausschließlich gerichtet zu halten, so war es doch nicht die Meinung,[498] daß zwischen Logik und Psychologie für PLATO je eine starre Scheidelinie bestanden hätte. Logos und Psyche sind bei ihm vielmehr von Anfang an und bleiben bis zuletzt im engsten Ineinander. Der Logos ist Logos der »Psyche selbst« und in ihr das letztlich Zentrale. Nichts Logisches, das nicht seinen Sitz allein in der Psyche hätte, nichts Psychisches, von dem nicht der Logos Rechenschaft zu geben verpflichtet wäre. Der Unterschied ist sozusagen nur ein solcher der Dimension, oder vielleicht richtiger, der Dimensionen und des Ganzen; die Psyche vertritt gleichsam die Integration aller Entwicklungen des sich aus sich selbst ewig fortzeugenden Logos, in denen eben ihre zeugerische Kraft sich betätigt und in ihrer Selbstentfaltung sich bewußt wird; ganz nach HERAKLITS tiefem Wort: psychês esti logos heauton auxôn. Das erklärt die unter allem Vorbehalt wegen der für PLATO damals noch nicht möglichen rein logischen Rechenschaft doch gewagte psychologische Unterbauung der sokratischen Unterredungskunst durch die Präexistenz der Seele im Meno. Der Ewigkeitssinn des Logos, der in der logischen Verständigung sich auftat, übertrug sich damit fast ohne jede Vermittlung in die Ewigkeit der Psyche, da doch eben in ihr diese Selbstentfaltung des Logos sich vollzieht. Ganz unmittelbar aber wird dann die Einheitsfunktion des Denkens, die im Logos sich selbst und in sich alle Aussage des »Seins«, also alle Erkenntnis entwickelt, begriffen als die der »Psyche selbst«, als mia tis idea, Einheit der Einheiten, im Theaetet. Auf ihm wiederum fußend, darf der Phaedo die genaue Korrelation der »Psyche selbst« und des »Seins selbst« (66 A u. E), nämlich der Eide, nur einfach aussprechen, und, da also die reine Wesenheit selbst »unsere«, d.h. der »Psyche selbst« eigen ist (76 E, 92 D), die »gleiche Notwendigkeit« in Anspruch nehmen für beides, das ewige Sein der Eide und den Ewigkeitsgrund der Psyche, ohne die so wenig jenes bestände, wie ohne es die Psyche. Wagt PLATO hier noch nicht die Psyche ganz dem Bereiche des Ewigen, Unwandelbaren, Unzerstörlichen zuzurechnen, sondern nur ihre Gleichartigkeit, ihre nähere Verwandtschaft mit ihm zu behaupten (79 C, 80 B), so ergibt der alles krönende letzte Beweis die Psyche selbst als Eidos, als solches aber, zumal des Lebens »selbst«, notwendig unsterblich, im strengen Sinne der Todunfähigkeit. Das Gastmahl aber erkennt ganz den tiefen Unterschied der Unsterblichkeit des Sterblichen von der bedingungslosen, allem Sterben weil überhaupt der Zeitlichkeit enthobenen Ewigkeit. Aber gerade im[499] ewigen Sieg über den Tod beweist das Leben seine Kraft der Verewigung und erhebt sich damit fast über die bloße ruhende Ewigkeit des reinen »Schönen«. Kein Wunder, daß (nach dem Staat, 506 E) diesem Ewigkeitsgrunde »alle Seele« zustrebt, nach dieser Sonne im überhimmlischen Bereich ihr sonnengeborenes Auge sich kehrt (508 D, 509 A), und im Aufstieg zu ihrem Licht (psychês anodos 517 B, vgl. 518 D, 526 E, 532 C; psychês holkon apo gignomenou epi to on 521 D) sich aus dem »nächtigen Tag« hienieden emporzuheben trachtet.

Aus dieser, von Anfang an so engen Ineinsbeziehung von Psyche und Logos, Psyche und Eidos, bis hinauf zur »Idee des Guten«, begreift es sich, wie es PLATO entgehen konnte, daß seine Beweise, auch wenn man sie sonst ganz gelten lassen könnte, die Unvergänglichkeit der Einzelseele nicht erbringen würden. Auch der neue44 Beweis im Phaedrus (245) hilft dem nicht ab; er kann aus seinen Voraussetzungen nur die Allseele begründen und löst das Problem der Individuierung keineswegs, wenn er diese sich in eine Vielheit von Sonderformen teilen, die »ungefiederte« aus der kreisenden Bahn des Uranos herabfallen und, wenn sie auf einen erdigen Körper trifft, sich diesem verbinden läßt. Die Psyche scheint damit, als bloße bewegende Kraft im (sonst bewegungslosen) Körper, fast ganz in die Physis (270 A) herabgezogen zu werden, während zugleich der Dualismus von Seele und schlechthin seelenfremdem Körper durchaus unüberwunden bleibt. Dagegen scheidet der in den Gesetzen (895 ff.) sonst gleichsinnig wiederholte und verschärfte Beweis in aller Bestimmtheit die inneren, reinen Selbstbewegungen der Psyche, nämlich das (nirgends sonst bei PLATO in annähernd gleicher Bestimmtheit abgegrenzte) Eigengebiet der Bewußtseinsvorgänge von den Bewegungsantrieben, welche die Seele dem Körper erteilt, wie auch von der Eigenkraft (rhômê), die dem letzteren hier ausdrücklich zuerkannt wird (896 D). Damit klärt der scheinbare Dualismus sich auf; der Leib ist nur Leib der Seele, und in der deutlichen Auseinanderstellung beider als des Beherrschenden und Beherrschten die leib-geistige Einheit des Kosmos nur um so strenger gesichert.

Nur von einem »Prinzip der Individuation« will auch hier nichts erscheinen. Erst PLOTIN wagt ein solches aufzustellen (Enn. V 7, vgl. VI 7, VI 2, IV 3), indem er, der Kühnheit solcher Neuerung sich ganz bewußt, Ideen auch des Einzelwesens[500] aufzustellen wagt; nicht ohne die ungeheure Konsequent sofort vor Augen zu sehen, vor der man indessen nicht zurückscheuen dürfe,45 eine Unendlichkeit im Intelligibeln selbst vorauszusetzen, die gerade im Teillosen ganz ist.46 Ohne Zweifel glaubt damit PLOTIN doch in der Linie PLATOS zu bleiben. Ihm bedeuten PLATOS Ideen je einzige Durchblicke in der Richtung des einzig Einen, in dem »das Ganze ganz und jedes Einzelne ganz«, nicht nur »aus dem Ganzen stets das Einzelne«, sondern das Einzelne »zugleich das Ganze« (V 8, 4) und so »alle Eins, vielmehr der Eine alle« (9), daher im Selbstbewußtsein47 – das mit dem Wissen kata noun notwendig verbunden ist, es müßte denn einer glauben, er selbst existiere nicht! – die Psyche, indem sie sich in sich selber eint, ja vereinzigt (henousthai, monousthai), sich zugleich mit dem einzig Einen vereint und vereinzigt. Daß dies, obwohl sich dem gleichsinnige Formulierungen bei PLATO nicht aufweisen lassen, doch seinem Sinne gemäß sei, läßt sich schwerlich beweisen; jedenfalls wird es nicht schon dadurch bewiesen, daß doch (worauf PLOTIN sich beruft) »die Alten« (d.i. PLATO) die Ideen onta und ousiai genannt haben. Doch bietet es für die substanzielle Deutung der Idee einen unzweifelhaft festen Anhalt, daß die Idee ein Individuum (ameres, monoeides) jedenfalls bedeuten will; nicht bloß in dem Sinne, in welchem dem Mathematiker jede einzelne Zahl, jedes abgegrenzte Zahlgebilde überhaupt, und so das Ganze »der« Zahl, d.h. der Gesamtbereich des Arithmetischen, nicht minder jedes geometrische Gebilde und das Ganze des geometrischen Raumes, oder dem Naturforscher das Gesetz der Natur und diese selbst als Inbegriff von Gesetzen, ein Einziges, in sich Bestandhaftes, Substanzielles, ein Individuum gediegenster Art und nicht eine leere Generalität des Denkens bedeutet; sondern in dem ungleich schärferen Sinne, daß jedes solche oder sonstige echte Individuum eine nur einzige (nicht bloß einzelne) Ansicht des letzten, einzig Einen, Ureinen ist, welches, über alle Teilung auch in die vielen Ideen hinaus (darum nicht tis logos, tis epistêmê, mia tis idea) in die Vielheit der Ideen sich so entfaltet, wie, eben der »Idee« nach, »die« Zahl in die Unendlichkeit der Zahlbeziehungen, »der« Raum in die Unendlichkeit der räumlichen[501] Gestaltungen, »das« Gesetz der Natur in die besonderen Gesetze, bis zu den engst begrenzten. Diese Entfaltung aber »der« Idee als echter Individuität in eine Unendlichkeit von Unterideen von gleich echter Individuität ist zum mindesten angelegt in der allseitigen Wechselbezüglichkeit und Wechseldurchdringung (xymmixis) der Gene, die im Sophisten aufgestellt und begründet wird als zu deren Wesen gehörige Koinonie und damit Entwickelbarkeit in die Andersheit. In andrer Fassung ergibt sich das Gleiche als der Grundsinn der letzten Gestaltung der Ideenlehre zur Lehre von den eidetischen Zahlen, womit jedenfalls angestrebt war eine Entwicklung völlig nach Art der reinen Mathematik; zu deren Durchführung wohl nicht so sehr die endlich doch alternde Kraft des Philosophen, wie der Stand damaliger Wissenschaft sich unzureichend erwies. Eine Dinghaftigkeit der Ideen aber, wie ARISTOTELES sie voraussetzt, ist mit dem allen nicht nur nicht gesetzt, sondern völlig unvereinbar, ihr Gesetzessinn nicht nur nicht aufgehoben oder eingeschränkt, sondern erst bis zum Letzten (der Absicht nach) durchgeführt und damit erst recht bestätigt und festgegründet. Sind (wie eben der »Sophist« es fordert) Ruhe und Bewegung, Einheit und Andersheit in den Gene als solchen, also in allen gegründet, so ist damit die Möglichkeit, und wäre in wirklich universaler Durchführung die Notwendigkeit der Individuation jeder Art und Stufe begründet, so daß es keine eidetische Einheit geben würde, die nicht in einer Vielheit von Individuen, wie sie selbst ein solches ist, und keine solche Vielheit, die nicht in einer wiederum individuellen eidetischen Einheit sich darstellen müßte. Damit aber wäre dann zu Leben, Seele, Vernunft, Erkenntnis, (ebensowohl zum Erkennen der Psyche wie zum Erkanntwerden der Usia) in der Idee der Grund gelegt, so wie es im Sophisten (248 D) gefordert wird. Insoweit ist die plotinische Auffassung der Idee, und der Individuation als ihrer Konsequenz, keineswegs ohne innere Begründung in PLATO selbst; sie hat dagegen garnichts zutun mit dem aristotelischen Mißverständnis, von dem PLOTIN, soviel ich erkennen kann, gänzlich unberührt geblieben ist.

Ganz in der gleichen Richtung aber liegt die Ableitung der Psyche aus der »Mischung« (welcher Terminus sogleich auf den »Sophisten« zurückweist) des Teillosen und Teilhaften (ameres und meriston) oder des Einen und Andern (tauton und thateron, vgl. Parm. hetera physis tou eidous, alla tou henos) im Timaeus; die wieder anders gewendet und doch wesentlich gleichsinnig im [502] Philebus sich ausdrückt als »Begrenzung des Unbegrenzten«. Wie aber alle diese verschiedenen und doch gleichgerichteten Vorstöße auf eine mögliche Lösung des Individuationsproblems (obgleich dieses direkt nirgends auftritt) aufs engste zusammenhängen mit der entscheidenden Errungenschaft des »Gastmahls«, die sich dort besonders in den Terminis des »Mittleren« oder des »Zwischen« aussprach, bestätigt zum guten Ende das Wiederauftreten des en mesô eben im hier berührten Zusammenhange des Timaeus (35 A); wie auch des logos alêthês in der Doppelgestalt einerseits als doxai kai pisteis bebaioi kai alêtheis, andrerseits als nous und epistêmê (37 BC.), mit dem Schluß: »Worin diese beiden eintreten, das ist doch wohl nicht anders als Psyche zu nennen!« Erklärt wird durch die Mischung des Teilhaften und Teillosen zugleich die Zurückkreisung der Psyche in sich selbst; aus ihr ergibt sich ihre Selbstbewegung, durch die sie zum Grunde der Bewegung überhaupt wird (vgl. Phdr. und Ges.), und welches Hand in Hand geht mit der Entfaltung der ruhenden, in ihrer Einheit verharrenden Ewigkeit (menontos aiônos en heni, oiaiônios physis 38 B) in ihr, darum selbst ewiges, rhythmisch wandelndes Abbild (kat' arithmon iousan aiônion eikona), die Zeit, welche, selbst typisches Beispiel eines individualen Gebildes, ganz die Rolle eines Eidos auf sich nimmt, ohne zwar den Ideen geradezu beigerechnet zu werden; eher dürfte ihr eine Sonderstellung wie dem nothos logismos des Raumes in PLATOS Sinne zuzuteilen sein, mit dem sie jedenfalls die Bedeutung eines individuierenden Prinzips teilt. –

Noch bleibt aber das Verhältnis des Dritten, das hier noch der Klärung harrt, des Eros, zu Psyche und Logos zu untersuchen. Alle drei fallen bei PLATO unter den wichtigen Begriff des »Mittleren«; und alle drei sollen vermitteln zwischen denselben beiden äußersten Enden, in gewöhnlicher, aristotelischer Sprache: Form und Materie; mehr platonisch gesprochen: reinem Sein und reinem Nichtsein. Woher diese dreifache Vermittelung zwischen denselben Extremen? – Nicht eine unmittelbar klärende Antwort, aber doch einen ersten förderlichen Wink gibt hier der Timaeus, wenn er die Psyche erklärt durch die Mischung nicht schlechtweg des Teilhaften und Unteilhaften (diese begründet nur die Differenzierung überhaupt), sondern beider »mit« dem Dritten, der Usia, und dann erst den Logos hervorgehen läßt aus der in sich zurückkreisenden Bewegung der Psyche. Die Psysche, der belebende »Hauch«, bedeutet danach, wie es scheint,[503] allerdings die Entwicklung des in sich ruhenden Einen in die Mannigfaltigkeit und das Wiederzurückstreben von dieser zur Einheit, aber nicht bloß in der, stets in der Teilung, Mittelbarkeit und bloßen Vermittlung stehen bleibenden, selbst nur teilhaft, mittelbar einenden Funktion der Erkenntnis (woraus die zwei Richtungen der Erkenntnis, selbst als psychischer Funktion: Diairesis und Synagoge, sich ableiten), sondern sofern sie, gleichsam als Aus- und Einatmung, auf die Totalität und damit Individuität, daher Unmittelbarkeit des ganzen Erlebens sich erstreckt. Eben die Individuierung käme nicht heraus, wenn nicht in die Mischung der »Identität und Andersheit« noch als Drittes, Letztbestimmendes die reine Einheit der Usia miteinträte. Zur Selbstrechenschaft des Logos aber und damit zur (gelebten) Vernunft und Erkenntnis kommt wohl die Psyche kraft ihrer in sich selbst zurückkreisenden Bewegung, die bei PLATO (wie wohl schon bei HERAKLIT) die Reflexivität des Bewußtseins begründen soll. Diese Bewegung aber ist wohl zu denken als jeweils außen- und innen-gerichtet; außen gerichtet nach der Peripherie, d.h. in der Richtung des letzten zu Bestimmenden, unendlich Geteilten (Apeiron), welchem entspricht 1) die Aisthesis, die, in sich stets Singular und durchaus schwebend, in dieser Schwebe und Singularität je einen Punkt des Seins nicht sowohl heraushebt als heraushebbar macht; 2) die Doxa, welche diesen schwebenden singularen Aufblitz des »Da ist etwas« gleichsam im Fluge erjagt und festnimmt, um ihn zu bergen; ganz nach innen gerichtet ist dagegen die in ihr eignes Zentrum zurück, zur teillosen Einheit gekehrte Bewegung der Psyche, welche in der »je einen (mia tis) Idee« Episteme und Nus begründet über diese, immer doch im Bereiche der Geteiltheit verbleibende Einheitsfunktion der Erkenntnis hinaus liegt aber, als letzter, selbst schlechthin ruhender, schlechthin einiger Grund der Einheit selbst, durch den Beides, die Erkenntnis und das erkennbare, nämlich irgendwie noch bedingte, teilhafte »Sein« erst begründet wird, erst das letztlich Eine, das also seinerseits nicht mehr in den Bereich des Logos, der Erkenntnis, oder allenfalls nur in deren äußerste Grenze fällt, die zugleich die äußerste Grenze der Psyche, als Entwicklung in die Bewegung, in den Gegensatz der Selbigkeit und Andersheit ist.

Aus eben diesen Voraussetzungen klärt sich vielleicht auch der unterschiedliche Sinn und die unterschiedliche Rangstellung der drei Momente dieses Letzten: des Agathon, Kalon, Sophon,[504] und damit das, was hier noch aufgehellt werden sollte, die Bedeutung des Eros und dessen Stellung zu Psyche und Logos. Das letzte Agathon ist im Grunde nichts andres als das letzte »Sein« und das letzte »Eine« selbst, als das allein verständliche Ziel alles Strebens in allem, was nicht es selbst ist. Das Letzte, wozu alles Streben strebt, wonach zu streben allein Sinn hat, ist eben das »Sein«; die Ruhe und Seligkeit ganz in sich beschlossenen, alles in sich schließenden, somit schlechterdings unbedürftigen, also befriedeten Wesens. Verwesentlichung (TAGURS Sadhana, Realisation) ist der Sinn der platonischen homoiôsis theô. Danach erst bestimmt sich alles, was abgeleiteter Weise ein Gutes heißen mag, als das, was gleichsam mit dem positiven Vorzeichen versehen ist, welches in die Richtung dieser Urbejahung des schlechthin »seinhaften«, alles Nichtsein ausstoßenden Seins weist. Im Unterschied davon ist das Kalon nach der Gegenseite, der Entwicklung in den unerschöpflichen Reichtum der Mannigfaltigkeit gerichtet, die in ihm und durch es nicht zur Einheit erst zurückstrebt, sondern von ihr, als dem Zentrum, ausstrahlend und in ihrem überschwänglichen Licht aufleuchtend erblickt wird, damit an der Seligkeit des Ureinen, des Agathon, je mehr sie ihm nahe bleibt, um so stärkeren Anteil hat; sodaß der Grad der Güte und der Schönheit, ohne dasselbe zu besagen, doch notwendig zusammengeht. Das Urgute, Urschöne, das Gute und Schöne »selbst« schließt danach gewiß nichts mehr von jener Art Befriedigung in sich, die noch den Widerstreit zur inneren Voraussetzung hat; denn in ihm ist aller Streit schon voraus geschlichtet. Aber durch die Zurückstrahlung vom Zentralpunkte her gewinnt doch alles, was im Lichte des Kalon aufleuchtet, einen Abglanz der streitlosen Seligkeit des Ureinen, indem es in der überschwänglichen Fülle des schlechthin wesenhaften Seins sich gehalten und befriedet weiß. Solche Erlöstheit ist es, die dem Eros, als dem Drang nach solchem Frieden der ewigen »Schöne« (kallos), die religiöse Weihe und den enthusiastischen Schwung mitteilt, dem in fast orgiastischer Erregung der Phaedrus, in wundervoll erhabener Abklärung das Gastmahl kaum zu überbietenden Ausdruck gegeben hat. Die sinnliche Glut, die doch auch im Letzteren noch überall spürbar bleibt, wird ewig nur für den nachfühlbar sein, in dem selbst jene Zurückstrahlung aus dem Urpunkte des Kalon, das zugleich das Agathon ist, ganz die Kraft der unbedingten Wahrhaftigkeit erreicht,[505] durch die allein sie mit unvermindertem Glanz noch ins letzte Sinnliche hineinstrahlt, es aus der Vereinzelung, die allein den abwürdigenden Charakter des »Sinnlichen« begründet, erlöst und in die gesättigte Fülle der allseitigen Wechseldurchdringung zurückführt.

Darum bleibt, nicht sowohl dem »Schönen selbst«, als vielmehr dem ihm zugewandten Eros die Rolle des Allvermittelnden. Darum ist der Eros Dämon, nicht Gott; nicht selber gut, schön, weise, aber nach diesem allen strebend; zu ihm hin treibend: Einheits-, vielmehr Einungsdrang, damit, obgleich immer sich selbst steigernde Schaffens-, Zeugenswonne, doch nie ohne irgendeinen Grad der Erinnerung an die Qual des stets dem Tode erst abzuringenden Lebens; nur auf höchster, dem Sterblichen kaum mehr erreichbarer Höhe ganze Erfüllung. Daraus versteht sich die schließliche Erhebung des Agathon über das Kalon im Philebus (65 AB vgl. 64 E) wie im Staat, letzten Grundes aber auch schon im Phaedrus (250 B und D). Erst den dritten Rang aber nimmt unter den Grundbestimmungen des Letzt-Einen das Sophon ein, oder der Logos, die Episteme, der Nus (Phileb. 66 B). Zwar müssen wohl eben im Letzt-Einen alle drei Grundbestimmungen koinzidieren; logisch voraus ist von ihnen keine vor den andern. Aber in ihrer Dreieinheit steht das bloß »Wahre« oder »Weise« (Wissensmäßige. Reinbewußte) an Gehaltfülle keineswegs gleich dem Sein »selbst«, in dem alles Streben das Ziel des Agathon findet, noch dem Schönen »selbst«, obgleich es selber zum Schönsten gehört (Gstm. 204 B; 210 C epistêmôn kallos). So ist auch an der »Verunsterblichung des Sterblichen«, die die tiefste und umfassendste Bedeutung des Eros ausmacht, nur ein Moment, und zwar das wenigst zentrale, die Erkenntnis. Daher ist der Eros zwar auch Philosophos (203 DE, 204 B, vgl. 202 A), aber nur so, wie überhaupt alles Streben zum ewig Einen, schließt er auch das zum ewig Wahren, zum »Einen, allein Weisen« in sich. In der Seligkeit der ruhenden Schau aber (theasthai monon kai syneinai 211 D) sind alle Mühen der Erkenntnis wie alle noch mit Sterbensqual gemischte Lebenswonne der zur Genesis gesteigerten Genesis (Poiesis) überwunden. Gleichwohl bleibt das letzte Schöne (wie das letzte Gute im »Staat«) auch höchster Erkenntnisgegenstand (211 A und C: autou ekeinou tou kalou mathêma, kai gnô auto teleutôn ho esti kalon). Also ist die Erkenntnis vom letzten Seinsgrund allerdings nicht abgeschnitten, vollends für die Rückwendung zu ihm keinesfalls zu überspringen.[506] Gerade die vom Urlicht in den »nächtigen Tag« des Diesseits hinausgestoßene Psyche bedarf nötiger als alles der Umwendung der Seele zum alles erhellenden Lichte des Ewigen durch die dialektische Erkenntnis. Diese wird eben durch den Eros ihr zuteil; ihm wird geradezu die Dialektos zugewiesen (Gastm. 203 A), durch die das Ewige sich der Psyche offenbart, und sie begleitet den ganzen Gang der Befreiung aus der Gefangenschaft des Diesseits bis zum letzten Schritt jenes höchsten Mathema hinauf; sie dient, zur kühnen Entdeckungsfahrt auf das »weite Meer« der »Wissenschaften« erhöht, gerade der letzten Steigerung der seelischen Kraft zur Ersteigung der höchsten Staffel, der Schau des reinen, an sich Schönen.

Nur Eines bedarf noch der Hinzufügung, was zwar von PLATO nicht ganz mit der gleichen Wucht ausgesprochen ist, aber überall mit zugrunde liegt und vielleicht nur, weil es dem treuen Sokratiker von allem das Selbstverständlichste war, der besonderen Unterstreichung nicht bedurfte: die Gemeinschaft von Seele zu Seele, die Philia, die, mit dem Eros nicht identisch, doch eng verknüpft und in ihm stets mitgedacht ist (so Gstm. 209 C, Phdr. 255 A B), Kann auch und muß die Dialektes sich zuletzt jedem in der eignen Seele vollziehen, so erstreckt sie sich doch stets zugleich, nach dem Grundsinn der »Zwiesprache«, auf den Austausch in gegenseitiger Erschließung, in welchem gerade die größere Distanz der Individualitäten oder der jeweils erreichten Erkenntnishöhe befruchtend wirkt. Eine so stark pädagogische Natur wie die PLATOS konnte daran garnicht vorbeisehen, und so wird besonders im »Gastmahl« dem Eros, neben der Dichtung, der Erfindung, Wirtschaft, Rechtspflege, Gesetzgebung, überhaupt Staatstätigkeit, mit besonderer Betonung die Erziehung, Paideia, als Aufgabe zugewiesen (209 B, 210 C), der jenes alles sich fast als bloß dienendes Mittel unterordnen muß. Und so ist ja PLATOS »Staat« vor allem und zuletzt Erziehungsstaat, eben als solcher aber ganz vom Eros regiert (St. 403 C ta tou kalou erôtika, identisch mit dem hen mega der paideia 423 E; ferner 485 C, 490 B; weiterhin die stets vorausgesetzte Koinzidenz des auto kalon und agathoi). Von einer Seite kann daher die Erotik PLATOS gradezu als Pädagogik, als ins rein Geistige übertragene Pädogonie (Gstm. 208 E) verstanden werden. Der Überschwang der zweiten SOKRATESrede im Phaedrus läßt das etwas weniger stark hervortreten, doch liegt es, schon nach dem Sinn der ganzen Schrift, auch unausgesprochen überall zugrunde, und tritt gegen Schluß des Gesprächs[507] auch ganz deutlich hervor in den kaum verhüllten Hinweisen auf die eigene Schule (273 ff., bes. 276 A ff., 278 B).

Die »Dialektos« weist aber noch in eine andere Richtung: auf die Rolle des Wortes und dessen Stellung im Systeme der philosophischen Grundbegriffe. PLATO ist darüber nie im Unklaren gewesen, daß das Wort nicht ein Letztes ist, sondern stets unter einem Andern: der »Sache selbst« (auto to pragma) bleibt, nicht ihr Bedeutung erst gibt, sondern sie von ihr allein empfängt; daß man die Sache auch nicht erst aus der Wortprägung, sondern allein aus sich selbst erkennt (Krat. 438 f. bes. 439 A B; Ges. 895 D; 7. Brief 342 ff.). Das gilt bis hinauf auch zur letzten Zuspitzung des Logos: jener Episteme, die an nächsten, ja schon dicht auf der Schwelle der ewig unaussprechbaren, letzten »Sache« steht. Aber – obgleich an sich nichts als ein schlichter Deut, gleichsam der ausgestreckte Finger des Wegweisers, der den ganzen Weg zu gehen, ja zu finden, dem Wandrer nicht erspart, und ihm dazu keine weitere Hilfe als die eines rohen sinnlichen Anhalts bietet, daß er nur nicht eine ganz falsche Richtung einschlage – vermag das Wort dennoch dem Gedanken und auch dem Willen etwas von der schöpferischen Kraft der »Sache« oder der »Wahrheit selbst« zu übertragen; so wie von dem ausgestreckten Finger des Schöpfer-Gottes in MICHELANGELOS Deckengemälde auf den ersten Menschen jener belebende Funke überspringt, der dann (wie es im PLATObrief hieß) schon von selbst das in der Seele entzündete Licht nähren wird. Solche Übermittelung lebendig zeugender göttlicher Kraft aber bedeutet ja, nach dem Gastmahl, eben der Eros, indem er, als Dialektes, »Zwiesprache«, den Verkehr nicht bloß von Individuum zu Individuum, sondern zwischen dem endlichen Individuum und dem überendlichen, letztindividualen und überindividualen Göttlichen so vermittelt, daß dadurch »das Ganze in sich selbst«, eben zur Einheit und Ganzheit, »zusammengeschlossen« ist.

Damit aber rückt nun der Eros ganz nah an unseren Begriff Religion. Diese bedeutet ja die »Wiederknüpfung« des Bandes, das – im Grunde nur scheinbar, für das getrübte Bewußtsein des seinem Ursprung innerlich entfremdeten Endlichen – zerrissen, durch das aber, nach der letzten Wahrheit der Sache, es im Ueberendlichen, Totalen (der holê ousia, Br. 7, 344 B) ewig gehalten ist; denn das »Ganze« (to pan, Gastm. 202 E) wird ja nicht bloß sondern ist ewig in »sich selbst« verknüpft. Doch[508] ist von platonischer »Religionsphilosophie« darum nicht zu reden, weil von Religion im so verstandenen Sinne das Ganze seiner Philosophie nicht bloß durchsetzt, sondern damit völlig Eins ist. Im Grunde zwar ist es ebenso unzulässig, von einer abgesonderten Logik, Ethik, Aesthetik, Psychologie bei PLATO zu sprechen. Immerhin lassen sich Antworten genug auch auf bestimmte Fragen solcher (sei es nun so oder anders abgeteilten) Sonderbereiche philosophischer Fragen bei ihm aufweisen; von der Religion aber gilt kaum auch nur das; nicht weil von ihr etwa weniger, sondern noch viel mehr als von jenem allen, seine ganze Philosophie durchdrungen und durchwärmt ist.

Hier aber mag es nicht überflüssig sein, einer vielfach gegenwärtig bemerklichen Neigung entgegenzutreten, die dahin geht, das Religiöse in PLATO zwar nicht zu leugnen, aber doch allzusehr ins bloß Humane, Kulturhafte herabzuziehen. Besonders stark spricht eine solche Neigung sich aus in dem keinesfalls wertlosen Buche des leider dem Krieg zum Opfer gefallenen HEINRICH FRIEDEMANN: »PLATON – seine Gestalt« (Blätter für die Kunst, Berlin 1914)48. FRIEDEMANN zählt zu den nicht zahlreichen jüngeren Platonikern, die bei entschiedener Stellungnahme gegen das vorliegende Buch doch dessen wesentliche Leistung, die Feststellung des wissenschaftlichen Sinnes der »Idee« als Hypothesis »möglicher Erfahrung«, nicht wegwerfen, sondern voll gelten lassen, nur, mit gutem Grunde davon nicht befriedigt, noch nach einer tieferen Bedeutung derselben suchen. Als diese behauptet nun FRIEDEMANN, nicht die von uns voll anerkannte religiöse, sondern eine davon wesentlich verschiedene, die er als kultische bezeichnet. Er empfindet die religiöse Glut, die in PLATO, so tief er sich manchmal in reichlich trockene, fast professorale Sonderuntersuchungen einläßt, doch immer wieder mächtig durchbricht; aber er deutet sie streng anthropozentrisch, eigentlich pädagogisch, im Sinne einer schlechthin selbstherrlichen geistigen Führerrolle nicht sowohl der platonischen Philosophen-Könige, als vielmehr des Philosophen, als des eis koiranos, der in einem fast HOBBESschen Absolutismus auch den Götterkult allein maßgeblich bestimmt, die Gottheit des[509] Kultes kreiert, wenn nicht geradezu – sie selbst sein will. Aber auch die stolzesten Äußerungen platonischen Selbstgefühls berechtigen zu einer solchen Deutung keineswegs, geschweige daß hier der letzte Sinn seiner Philosophie, insbesondere seiner Erotik, zu suchen wäre. Der wahre Herd der religiösen Glut, die in PLATOS Werken den dafür nicht etwa ganz unempfindlichen Leser ergreifen muß, ist nicht irgendein vom Menschen künstlich geschaffener Lebensmittelpunkt; sie ist nicht die Wirkung der suggestiven Gewalt, die vom überragenden menschlichen Genie (ein Begriff, der den frommen Alten überhaupt fern liegt) auf die dafür empfänglichen Gemüter ausgeht und sie zu einem irdischen »Reich«, einer Art ins Menschliche übersetzter Theokratie zusammenzwingt, sondern sie ist kosmischer ja überkosmischer, göttlicher, ja übergöttlicher Herkunft. Was von kultischen Einwirkungen und kultisch geheiligten Gesetzen (übrigens fast nur in seiner letzten Periode) bei PLATO vorkommt und da allerdings keine geringe Rolle spielt, ist ersichtlich nichts mehr als ein in der Tat pädagogisches Mittel, die höchste menschliche »Tugend«: die »Flucht von hier dorthin«, die Angleichung an die Gottheit (homoiôsis theô) nach Möglichkeit (kata to dynaton, The. 176 B) zu befördern. So wahr es ist, daß PLATO (überhaupt die Alten) keinen »Geist« kennen, der nicht auch seinen »Leib« hätte: zuletzt gibt es für den, seinem letzten Begriff nach alldurchwaltenden einen Geist keinen andern Leib als das eben von ihm ganz durchwirkte und somit lebendige eine All; er findet auch keinen vollwürdigen »Kult« anders als im erhabenen Reigentanz der Gestirngötter um die ewig ruhende Weltmitte, welche in irgendeinem irdischen Kult allenfalls nur ihr symbolisches Gegenbild findet. Hoch darüber hinaus liegt aber die offenbarende, erlösende und schaffende Kraft der göttlichen Führung, der von Seiten des Menschen Entgegennahme in innerer Bereitschaft der Seele, hochgeistige, innerlichste Selbstbefreiung, und dadurch entbundene, begeistert aufflammende eigene zeugerische Schaffenswonne antwortet.

Die Führerschaft der menschlichen Aristoi, der Philosophen-Könige (stets so im Plural, nicht im Singular!) hat erst unterhalb der so universal gedachten Führung des Göttlichen selbst ihre genau umgrenzte Stelle, sie dürfte nimmer deren Platz einnehmen wollen. Muß erst noch erinnert werden an Aussprüche wie (Ges. 716 C): daß am ehesten doch wohl Gott das »Maß der Dinge« ist und nicht (wie man behauptet) »irgend so ein[510] Mensch«; oder an den wohlbekannten, scheinbar pessimistischen Stimmungsausbruch (ebenda 803 B C), der die menschlichen Dinge überhaupt keines sonderlichen Ernstes wert, Gott allein des ganzen seligen Ernstes (makariou spoudês) würdig, den Menschen für ein bloßes »gefertigtes Spielwerk« Gottes erklärt; oder an das ganze zehnte Buch desselben, abschließenden Werkes des Philosophen? Daß die echten menschlichen Führer öfters »göttlich«, theioi (Dioi Phaedr. 252 E, vgl. 250 B) genannt werden, kann dagegen nichts beweisen; es hat durchaus zur Voraussetzung wiederum die Forderung des Strebens der Angleichung an den Gott (eis homoiotêta tô theô 253 B), das doch die Gottheit selbst nie erreicht. Ein geistvoller Schriftsteller49 hat kürzlich die tiefe Verschiedenheit klassisch-griechischer Religiosität von der uns geläufigen wirksam beleuchtet durch den Umstand, daß sie nicht davor zurückscheut, auch im Sinnlichsten noch ein Göttliches anzuerkennen, daher keinen Anstoß empfindet, wenn z.B. HOMER vom »göttlichen Sauhirten« redet. An dieser klassischen Art Religiosität hat PLATO vollen Anteil. Er kennt und teilt selber ganz, nicht bloß jenen »seligen Ernst« in der reinen Schau und dem reinen Einssein mit dem Göttlichen, sondern nicht minder den heißen Atem gottgewirkter erotischer Leidenschaft und den dithyrambischen Rausch eines heiligen Enthusiasmus, in dem die wildesten Wirbel aller menschlichsten Schmerzen und Lüste, Komödie und Tragödie (Gastm. 223 D), zuletzt »die ganze Tragödie und Komödie des Lebens« (Phileb. 50 B) eins wird; er kennt und teilt, mit einem Wort, alle Gluten einer »Sinnlichheit«, die nichts gemein hat mit dem, was uns im wegwerfenden Sinne so zu nennen geläufig ist. Wirklich ist am Sinnlichsten nichts verwerflich als die – Frechheit, mit der es in seiner Vereinzelung und Zerstücktheit das Ganze zu sein sich anmaßt; während durch die lebendige Alldurchdringung mit dem Göttlichen auch das Letzte des Sinnlichen gereinigt und geheiligt wird, und dabei doch voll in seiner »Sinnlichkeit«, d.h. den ganzen Menschen ergreifenden und ausfüllenden, vielmehr ergriffenen und ausgefüllten Unmittelbarkeit verbleibt. FRIEDEMANN verfällt, so scheint es, jenem Anthropozentrismus aus einer fast fanatischen Anklammerung an das Diesseits, die gegen die falsche Jenseitigkeit, in welche noch immer den Meisten die Religion entrückt ist, fortwährend mit Leidenschaft ankämpfen zu müssen meint.[511] Für PLATO aber besteht, jedenfalls auf der Höhe seiner Philosophie, gar keine Kluft zwischen Diesseits und Jenseits, sie ist, mindestens seit dem Gastmahl, ihm geschlossen, um nie mehr von neuem aufgerissen zu werden bis zuletzt; gerade der Timaeus unterstreicht noch einmal die unzerreißbare Einheit des Ganzen, die Güte des göttlichen Schöpferwillens; und dem widersprechen auch die »Gesetze«, mögen auch fast weltflüchtig erscheinende Stimmungsausbrüche begegnen, doch im letzten Kern der Sache nicht. Man darf an PLATO gar nicht die Frage richten, ob für ihn das Eine um des Alls oder das All um des Einen willen sei. Fragt man auch, ob im Kreis das Zentrum für die Peripherie oder die Peripherie für das Zentrum sei? Für PLATO ist das Letzte gewiß nicht das »All«, in seiner Zerstreuung in die »Andersheit«, sondern die Einheit der vom Zentrum her lenkenden und bestimmenden Urkraft. Dabei hat man sich aber das »Zentrum« nicht als leeren Mittelpunkt, sondern als zentrale Kraft, ganz im Ganzen und ganz in jedem Teil, lebendig schöpferisch das All durchwaltend und eben zum Ganzen zusammenschließend zu denken.

Diesen Sinn des letzten Einen findet man, nicht geradezu platonisch, aber doch unter stark platonischer Einwirkung, tief entwickelt und radikal durchgeführt in dem Buche eines andern, ebenfalls dem Krieg zum Opfer gefallenen Gelehrten, dein auch an dieser Stelle der Zoll des Dankes ins Grab hinüber erstattet sei: JOSEF HEILER, »Das Absolute, Methode und Versuch einer Sinnklärung des Transzendentalen Ideals« (München, Ernst Reinhardt, 1921). Gleichwohl erscheint auch hier das Göttliche noch um einen Grad zu lief in menschlichen Bereich, in den Bereich humaner Kultur herabgedrückt. Vielleicht scheint es wirklich nur so; aber gerade, um die Reinheit des Kerngedankens zu wahren, sollte auch jeder solche falsche Schein entschiedener ausgeschlossen sein. Vom Verfasser dieses Buches ist vor langer Zeit eine kleine Schrift erschienen, welche von »Religion innerhalb der Grenzen der Humanität« handelte. Er sucht sie heute nicht mehr »innerhalb«, doch ebensowenig außerhalb, sondern genau in – nicht den Grenzen sondern der Grenze des Menschtums. Denn nur streng in der Einzahl darf die letzte Grenze gegen das Ur-Eine gedacht werden. Diese letzte Grenze bedeutet für PLATO der Eros. Darum ist er ihm zwar göttlich, Dämon, doch nicht Gott,50 aber er überträgt göttliche[512] Kraft in den Menschen, dem sie durch ihn sich mitteilt, wenn er sich mit ganzer Seele ihr erschließt, sie willig, sehnend und trauend in sich aufnimmt, und die ernsten Mühen nicht scheut, durch alle Schmerzen und Wonnen des Eros hindurch und auch durch die strenge Schule der Wissenschaften und der Dialektik sich bis zum reinen »Schauen und Einssein« mit dem Göttlichen zu erheben. Darin ist nichts von falscher Vergottungsmystik; die Distanz zwischen Gott und Mensch bleibt streng gewahrt, der Humanität bleibt ihr volles Eigenrecht, aber die Gottheit wird nicht in sie herabgezogen.

So bleibt auch dem hohen Ernst sokratischen Erkenntnis- und Tugendstrebens bei PLATO bis zuletzt seine volle Wertung. Niemals hat in ihm die Überzeugung auch nur für einen Augenblick gewankt, daß es eine Kraft unserer Psyche gibt, die Wahrheit zu lieben (eran tou alêthous) und um ihretwillen »alles zu tun« (Phil. 58 D). Nie hat das Gute ihm aufgehört das zu bedeuten, dem jegliche Psyche nachjagt (ho diôkei hapasa psychê) und um seinetwillen »alles tut« (Staat 505 DE, vgl. Gorg. 499 E); den aber schließt er als Ungebildeten von allem Anteil an der Staatslenkung aus, dem das »eine Ziel im Leben« (skopon en tô biô hena) mangelt, worauf hinzielend man im privaten wie öffentlichen Leben »alles tun« muß (Staat 519 C). So bleibt der Eros stets, nicht auf das Schöne allein, sondern ebenso bestimmt auf das Wahre und Gute gerichtet, wie es sich voll versteht aus der Dreieinheit des Agathon, Kalon, Sophon im Letzt-Einen, zu dem durch den Eros die Psyche aus aller Zerstreuung und Zerstücktheit des »Andersseins« zurückstrebt. Der Preis des Eros und des Kalon bedeutet also bei PLATO nicht das Geringste von Herabdrückung, sei es menschlicher Wissenschaft oder gar des Strebens zum Guten, der menschlichen »Tugend«. Das mögen alle die sich gesagt sein lassen, die, vom Eros schwärmend, der Wissenschaft und Tugend Valet sagen zu dürfen meinen. Jedenfalls auf PLATOS Eros haben solche sich zu berufen kein Recht. Auch deshalb möchte die hiermit zu Ende geführte Untersuchung nicht überflüssig gewesen sein.

Weiterhin bedarf es nur noch weniger Anmerkungen zu Einzelfragen, über die der Verfasser heute anders denkt als beim ersten Erscheinen dieses Buches, oder wesentliche Ergänzungen zu bieten imstande ist.[513]

28

Man vergleiche hierzu die Ausführungen des Verfassers in dem Sammelwerk: »Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen«, Bd. I (Leipzig, Felix Meiner).

29

S. die Dissertation von H. KNITTERMEYER: »Der Terminus transzendental in seiner historischen Entwickelung bis auf KANT,« Marburg 1920.

30

Nur so versteht sich, wieso HERAKLIT in den Verdacht einer beabsichtigten Erschütterung des »Satzes des Widerspruchs« kommen konnte. Es war kein Umsturz – kaum Einer hat sich so unablässig auf Vernunft und Gesetz und Logos berufen wie HERAKLIT – aber wohl ein mächtiger Schrill darüber hinaus. Widersprach selbst ist, und ist etwas Logisches, weil doch Spruch. Das hat HEGEL richtig verstanden. – Nebenbei sei darauf hingewiesen, wie stark ein Grieche zur Entdeckung der Reflexivität prädisponiert, fast prädestiniert sein mußte durch seine Sprache: durch den reflexivischen Sinn der Medialform des Verbum.

31

Politic. 283 DE kata tên geneseôs anankaian ousian ... ontôs gignomenon. Soph. 256 B, 257 A, 259 A.

32

So wenig es in meiner Macht steht an diesem Tatbestand etwas zu ändern, so wenig steht es in meiner Macht, die objektive Folge daraus zu verneinen: daß die hier fraglichen Aufstellungen des Theaetet dem Phaedo nicht bloß im eignen Denken PLATOS, sondern auch in der Bekanntgebung seiner Gedanken zeitlich vorangegangen sein müssen. Ist andrerseits der äußere Beweis für die späte Herausgabe des Theaetet in der uns vorliegenden Gestalt wohl unumstößlich geführt, so bleibt, ebenfalls rein objektiv, jenseits aller individuellen Willkür des einzelnen Forschenden, als einzig möglicher Ausweg die Annahme übrig, daß das uns überlieferte Werk die umgearbeitete zweite Ausgabe eines älteren ist, äußerlich, nach hoher Wahrscheinlichkeit, veranlaßt durch das Ereignis des Todes des THEAETET, innerlich begründet durch die Bedeutung, die der Philosoph gerade diesem Werke bleibend beimaß, und die innere Beziehung, in die er es glaubte setzen zu sollen zu den Gedanken, die er gerade vorzutragen im Begriff stand; zu deren Vorführung er deshalb, statt eine neue Gesprächseinkleidung zu ersinnen, den einfacheren Weg einschlug, dem alten, ursprünglich ganz in sich beschlossenen, auf keine Fortsetzung berechneten Werk eine solche, und zwar in einem dreiteiligen Werke zu geben, von dem die zwei ersten Stücke als »Sophist« und »Staatsmann« vorliegen, das dritte, wohl wieder nur aus äußeren Gründen, nicht zur Ausführung kam. Was und wieviel von dem vorliegenden Werk erst der zweiten Ausgabe zuzuweisen ist, bleibt dabei offene Frage. Der entscheidende Gedankengang wird schon in erster Fassung kein andrer gewesen sein.

33

Dem entspricht ganz der Phaedo (73 C, 74 BC, 75 ABE), vgl. Phdr. 249 B. Staat 523 ff.

34

Das besagt die Unterscheidung des und di ou (184 C), deren gleichsinnige Wiederkehr im Phaedo (65 f. u. 79 C) für dessen genaue Zurückbeziehung auf den Theaetet besonders beweisend ist; s. o S. 139 f.

35

mia tis idea – hier wie 184 B einfach = »Einheit«, und zwar zentraler Beziehung – ameristos (205 C)... auto kath' hauto (vgl. 206 A) asyntheton – welche die Möglichkeit der Aussage des einai (Sein) und touto (des Diesen) begründet; monoeides te kai ameriston (D), hen te kai ameres (E). Vgl. Phaedo 78 B – D, 80 B u. ö. axyntheton, monoeides, auto kath' hauto.

36

S. bes. 190 A. Im dianoeisthai, »Durchdenken« liegt durchaus der »diskursive« also bewegliche Charakter der Denktätigkeit. Vgl. das Bild des Bogenschützen (194 A), wobei man sich am die Etymologie (Crat. 420 B): doxa von toxou bolê, erinnere. So könnte auch die andere Deutung der doxa als diôxis auf die Jagd (thêreusis) nach den im Taubenschlag der Seele eingefangenen Epistemai (The. 197 ff.) zurückweisen.

37

Zur abschätzigen Beurteilung der nur triebmäßig begründeten, nur berechnenden Sophrosyne bietet die nächste Analogie der Phaedo (68 E f., 82 B).

38

Am nächsten kommt den späteren Fassungen die Dreieinheit des Göttlichen (theion) als kalon, sophon, agathon – wo gleichwohl der Zusatz kai pan ho ti toiouton, auch die Reihenfolge, in der die drei Begriffe hier auftreten, hinter der Klarheit des Gastmahls, des Staats und des Philebus merklich zurückbleibt.

39

Nicht in Rücksicht auf die Frage der Entstehungszeit des Phaedrus ist dies hier ausgeführt worden. Allerdings ist für mich das Dargelegte ausschlaggebend im Sinne meines früheren Ansatzes. Kann man sich aber den Unsterblichkeitsbeweis des Phaedrus denen des Phaedo (mit der Ergänzung im Staat, Buch X), desgleichen die Dreiteilung der Seele und den hyperoupanios tokos den entsprechenden Ausführungen Im »Staat« nicht zeitlich vorausgehend denken, scheint zugleich manches Stilistische den Phaedrus eher den letzten Werken nahe zu rücken, so bleibt, wie beim Theaetet, als einziger Ausweg die Annahme einer späteren Neubearbeitung. Diese bitte, ohne die ursprüngliche Anlage ganz zu zerstören, die inneren Widersprüche kaum beseitigen können; so sind sie, als Denkmal einer für PLATO längst überwundenen Epoche, stehen geblieben. Vielleicht ist die Betonung seiner Freiheit früher verfaßten Werken gegenüber (277 ff., bes. 278 C) apologetisch in verstehen und nicht zuletzt auf das vorliegende Werk selbst zu beziehen.

40

Zu epitêdeumata kai nomoi (210, 209 BED) vgl Gorg. 474 E.

41

S. »Deutscher Weltberuf« (Jena, E. Diederichs) I S. 10.

42

Neben dem »Sophisten«, der (263 E ff.) genau die Feststellungen des Theaetet (189 f.) wiederholt, dem »Staatsmann« (278 A ff. 309 C, dagegen logon dounai 286 A) sowie dem Parmenides (s. w. u.) ist hier besonders der Philebus hervorzuheben (diadoxazein = krinein 38 C,) als innerer Ausspruch: Es ist das und das (D), also Identischsetzen (tauton pros hauton dianooumenos E); sodaß wieder al doxa und al logos zusammenfallen (39 AC; obgleich ontôs doxazein nicht auch heißt ep' ousin, 40 C). Auch im Timaeus (37 B) wird unter Logos beides: doxai kai pisteis bebaioi kai alêtheis und nous oder epistêmê zusammengefaßt, unter sich (51 D f.) in bekannter Weite unterschieden: das Eine wird durch Lehre uns zuteil, das Andre durch Sicheinreden (peithô), das Eine ist mit der wahren Begründung verbunden (met' alêthous logou), das Andre grundlos (alogon, wie Gstm. 202), das Eine überzeugt unerschütterlich, das Andre läßt sich umstimmen (ist metapeiston). Vgl. auch Ges. 632 C, 653 A (phronêsin kai alêtheis doxas bebaias), 607 E, 869 AB (dagegen orthois logois 696 C; logos als Definition 695 f.) und Epist. VII 342 C, wo nous alêthês te doxa völlig auf gleicher Linie zu stehen scheinen.

43

Vgl. die Betonung des aei (nicht en merei, tote men – tote de) im Koinzidenzsatze des HERAKLIT, Soph. 242 E (s. o. S. 465 f.).

44

S. o. S. 487, Anm. 1.

45

Zweimal: V 7, 1 a. E. und 3 a. E.

46

Sehr gegen ARISTOTELES, nach welchem Unendlichkeit und Ganzheit sich ausschließen.

47

synaisthêsis hautou, synesis hautês (V 8, II) ... hautois synetoi, tên epistêmên hêmôn kai hêmas hen pepoiêkotes.

48

Auf andere Kritiken hier einzeln zu antworten dürfte nach allem Gesagten nicht mehr nötig sein. Gedankt sei ihnen allen; so von Jüngeren: JULIUS STENZEL, Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik von SOKRATES zu ARISTOTELES (Breslau, Trewendt & Granier, 1917) und OTTOMAR WICHMANN, PLATON und KANT (Berlin, Weidmann, 1920).

49

LEOPOLD ZIEGLER, Gestaltwandel der Götter (Berlin, S. Fischer, 1920).

50

Mit Gastm. 202 B E vgl. Phaedr. 242 E: theos hê ti theion.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 457-514.
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