Zweites Kapitel
Einleitender Ueberblick des Ganzen

[5] Die Erörterung über das größte Nichtwissen erfordert allererst einer Erläuterung der Natur des Größten.

Das Größte ist das, über welches hinaus es nichts Größeres gibt. Die höchste Fülle (abundantia) kommt aber der Einheit zu. Es coincidirt also mit dem Größten die Einheit, die auch das Sein (entitas) ist. Da diese Einheit von allem Verhältniß und allem Concreten (contractione) ganz und gar frei ist, so hat sie offenbar keinen Gegensatz. Das absolut Größte ist daher eine Einheit, die Alles ist und in der Alles ist, weil es das Größte ist. Weil es keinen Gegensatz hat, so coincidirt mit ihm das Kleinste, es ist daher auch in Allem. Weil es absolut ist, so ist es in Wirklichkeit (actu) alles mögliche Sein, ohne durch die Dinge beschränkt zu sein, da alle Dinge von ihm sind.[5]

Dieses Größte, das im einstimmigen Glauben aller Nationen Gott genannt wird, werde ich im ersten Buche in nicht begriffsmäßiger Weise, über den menschlichen Verstand hinausgreifend (supra humanam rationem incomprehensibiliter inquirere laborabo) zu erforschen suchen, unter der Leitung Dessen, der allein in einem unzugänglichen Lichte wohnet.

Wie das absolute Größte das absolute Sein ist, durch welches Alles ist, was ist, so gibt es auch eine universale Einheit des Seins aus jener, die das absolut Größte ist. Sie existirt concret (contracte) als Universum, dessen Einheit in concreter Vielheit besteht, ohne welche sie nicht sein könnte. Obwohl dieses Maximum in seiner universalen Einheit Alles umfaßt, und Alles, was aus dem Absoluten stammt, in ihm ist und es in Allem, so hat es doch seinen Bestand nicht außer dem Bereiche der Vielheit, da es nicht ohne concrete Beschränkung (contractione) besteht, von der es sich nicht losmachen kann. Von diesem Maximum, dem Universum, werde ich im zweiten Buche Einiges sagen.

Consequent wird sich dann das Maximum der dritten Betrachtung herausstellen. Denn da das Universum nur ein beschränktes Sein in der Vielheit hat, so werden wir aus dem Vielen Ein Größtes heraussuchen, in dem das Universum auf die größte und vollkommenste Weise actuell, als in seinem Ziele, Subsistenz findet. Dieses muß sich mit dem Absoluten, das der Höhepunkt des Universums (terminus universalis) ist, vereinen, weil es das vollkommenste Ziel sein soll, über alle menschliche Fassungskraft. Von diesem Größten, das zugleich concret und absolut ist, das wir Jesus, den ewig gepriesenen nennen, will ich im dritten Buche Einiges, soweit mich Jesus selbst hiezu erleuchtet, beifügen.

Wer aber meinen Sinn erforschen will, muß über die Wortbedeutung hinaus sich zum geistigen Verständniß erheben und nicht an der eigentlichen Bedeutung der Worte hängen bleiben (oportet potius supra verborum vim intellectum efferre, quam proprietatibus vocabulorum insistere), die zur Bezeichnung solcher Mysterien des Geistes in ihrer gewöhnlichen Bedeutung nicht ausreichen (quae tantis intellectualibus mysteriis proprie adaptari non possunt). Auch Vergleichungen aus der Sinnenwelt muß man zur Anleitung anwenden, indem man sie auf das Geistige überträgt, auf daß der Leser leichter sich zur einfachen Vernunfterkenntniß (ad intellectualitatem simplicem) erhebt. Den Weg hiezu bemühte ich mich auch gewöhnlichen Talenten so deutlich als möglich, mit Vermeidung aller Härte der Darstellung zu zeigen. Zu dem Ende werde ich sogleich zu dem Wurzelbegriff der Wissenschaft des Nichtwissens – die Unmöglichkeit einer präcisen Erfassung der Wahrheit, übergehen.[6]

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 5-7.
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