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Erstes Kapitel
Das in dieser oder jener concreten Form erscheinende Größte, über welches es kein Größeres gibt, kann ohne das absolut Größte nicht bestehen

[73] Im ersten Buche ist die Rede von dem Einen absolut Größten, das nicht mitgetheilt, in das endliche Sein vermengt (immersibile) und nicht auf Dieses oder Jenes eingeschränkt werden kann, sondern in sich ewig gleich und unbeweglich als die absolute Identität existirt. Im zweiten Buche wurde das concrete Universum gezeigt, und wie Dieses und Jenes nur concret existirt. Es ist also die Einheit des Größten in sich absolut, die Einheit des Universums in Vielheit beschränkt. Die Vielheit nun, in welcher das Universum in Wirklichkeit seinen Ausdruck findet, kann unmöglich mit der höchsten Gleichheit bestehen, denn sonst wäre es keine Vielheit. Somit besteht Alles nothwendig indifferenter Weise, nach Gattung, Art und Zahl, so daß Jegliches in besonderer Zahl, Maaß und Gewicht besteht. Es sind daher im Universum Gradunterschiede, und kein Wesen coincidirt mit dem andern. Kein concretes Sein kann daher den Grad der Concretheit eines andern Seins präcis decken. Zwischen dem Größten und Kleinsten ist sonach Alles concret und es gibt immer größere oder kleinere Grade des Concreten, ohne daß jedoch dies in's Unendliche fortgeht,[73] da eine Unendlichkeit von Graden unmöglich ist; denn unendlich viele Grade wären so viel als kein Grad, wie ich in der Lehre von der Zahl im ersten Buche gezeigt habe. Es gibt somit im Concreten kein Auf- oder Absteigen zu dem absolut Größten oder Kleinsten. Wie daher die göttliche Natur, die absolut größte, keine Verminderung zuläßt, so daß sie in die endliche und concrete übergeht, so kann auch die concrete, endliche ihrer Concretheit so entkleidet werden, daß sie zur ganz absoluten wird. Sonach erreicht kein concretes Sein, da es mehr oder weniger concret sein kann, das Höchste (terminus) im Universum, in der Gattung oder Art, denn die erste generelle concrete Ausgestaltung des Universums ist die Vielheit der Gattungen, die nothwendig graduell verschieden ist. Die Gattungen aber bestehen concret nur in den Arten, die Arten nur in den Individuen, die allein in Wirklichkeit existiren. Wie es daher nach der Natur des Concreten kein Individuum gibt, das nicht hinter dem Höchsten seiner Species zurückbleibt, so kann auch kein Individuum das Höchste in der Gattung oder im Universum erreichen. Denn unter mehreren Individuen derselben Art muß nothwendig eine Verschiedenheit der graduellen Vollkommenheit statt finden. Kein Wesen ist daher in seiner Art ganz vollkommen, so daß es kein vollkommeneres gibt, sowie keines so unvollkommen ist, daß es kein unvollkommeneres ist, daß es kein unvollkommeneres gibt: das höchste seiner Art erreicht keines. Es gibt somit nur Ein Höchstes (unus terminus) aller Arten, Gattungen und des ganzen Universums, es ist das Centrum, die Peripherie und die Verbindung von Allem; das Universum erschöpft nicht die unendliche absolut größte Macht Gottes, so daß es als das schlechthin Größte die Grenze der göttlichen Allmacht bildet. Es erreicht somit das Universum nicht das Höchste des absolut Größten, wie die Gattungen nicht das Höchste des Universums, die Arten nicht das Höchste der Gattungen, die Individuen nicht das Höchste der Arten, so daß es Alles das, was es ist, auf die beste Art wäre, zwischen dem Größten und Kleinsten, und Gott Anfang, Mitte und Ende des Universums und jedes Einzelnen, auf daß alle Dinge, sie mögen nach Oben oder nach Unten oder nach der Mitte streben, sich Gott nähern. Wohl aber besteht eine Verbindung aller Dinge durch ihm, alles noch so Verschiedene ist verbunden. Unter den Gattungen, die der concrete Ausdruck des Einen Universums sind, besteht eine solche Verbindung der niedern und höhern, daß sie in der Mitte coincidiren. Die verschiedenen Arten sind so geordnet, daß die oberste Art eine Gattung mit der untersten der nächsthöheren coincidirt, wodurch in Einer Continuität die Vollkommenheit des Universums sich darstellt. Jede Verbindung ist aber graduell, und man gelangt nicht auf die größte, weil diese Gott ist. Es sind daher verschiedene Arten der[74] niedern und höhern Gattung nicht in einem gewissen Untheilbaren verbunden, das kein Mehr oder Weniger zuläßt, sondern in einer dritten Art, dessen Individuen graduell verschieden sind, so daß keines derselben gleichmäßig an jeder Art, als wäre es ein aus beiden Arten Zusammengesetztes, participirt, sondern es ist in seinem Grade der concrete Ausdruck einer besondern Art, die im Vergleich zu den übrigen aus der niedern und höhern zusammengesetzt scheint. Keine Art steigt demnach zum Minimum einer Gattung, denn bevor sie dieses wird, verändert sie sich in eine andere. Wenn in der Gattung der lebenden Wesen die Menschenart daran ist, sich im Gebiete des rein Sinnlichen auf eine höhere Stufe zu erheben, geht sie plötzlich die Verbindung mit der geistigen Natur ein, doch bleibt die niedere Seite überwiegend, weßhalb sie noch lebendes Wesen (animal) genannt wird ... Die Arten sind daher wie eine progresive Zahl, die nothwendig begrenzt ist, so daß Ordnung, Harmonie und Proportion bei aller Verschiedenheit besteht, und man muß zuletzt zu der untersten Art der niedrigsten Gattung, die in Wirklichkeit die kleinste ist, und zu der obersten Art der höchsten Gattung, die ebenso in Wirklichkeit die höchste ist, über die es jedoch noch eine kleinere oder größere geben könnte, kommen, ohne Progression ins Unendliche, so daß wir, wir mögen nun nach Oben oder nach Unten zählen, mit der absoluten Einheit, die Gott ist, als dem Princip aller Dinge den Anfang machen. Die Arten sind dann gleichsam die bei dem Fortschritt von dem Kleinsten (das das Größte ist), oder von dem Größten, dem kein Kleinstes entgegensteht, uns entgegentretenden Zahlen, so daß nichts im Universum ist, das sich nicht eines gewissen singulären Seins erfreuete, das sich in keinem andern Wesen findet. Kein Wesen vereinigt Alles in Allem, keines das Entgegengesetzte auf eine gleiche Weise, keines kann mit irgend einem andern zu irgend einer Zeit ganz gleich sein, wenn es auch zu einer Zeit weniger, zu einer andern Zeit mehr als das andere ist. Diesen Uebergang macht es in einer gewissen Singularität des Seins, ohne je die präcise Gleichheit zu erreichen. So geht ein in einen Kreis beschriebenes Viereck zur Größe eines um den Kreis beschriebenen über: aus dem Viereck, das weniger als ein Kreis ist, geht es über zu dem Viereck, das größer als der Kreis ist, ohne jedoch je zur Gleichheit mit jenem zu gelangen. Der Einfallswinkel erhebt sich aus einem Winkel, der kleiner als ein rechter ist, zu einem solchen, der größer als ein rechter ist, ohne die volle Gleichheit zu erreichen. Mehreres hierüber in dem Buche über die Muthmaßungen. Es können nämlich die individualisirenden Principien in keinem Individuum in derselben harmonischen Proportion, wie in einer andern zusammentreffen, so daß jedes Wesen für sich eine Einheit, und in seiner Weise vollkommen[75] ist. Wenn sich gleich in einer Art, z.B. der Menschenart, zu einer bestimmten Zeit Einige finden, die vollkommener und in gewisser Hinsicht hervorragender sind, als Andere, wie Salomon Alle an Weisheit, Absalon an Schönheit, Samson an Stärke übertroffen hat, und wenn die geistig Hervorragenden von den Uebrigen geehrt wurde, so können wir doch, weil die Verschiedenheit der Ansichten nach der Verschiedenheit der Religionen, Secten und Gegenden verschiedene Urtheile erzeugt, so daß, was nach dem einen Gesichtspunkte Lob, nach einem andern Tadel erlangt, und weil uns die auf der ganzen Welt zerstreuten Menschen unbekannt sind, nicht sagen, wer unter Allem Vortrefflichste sei, da wir ja nicht einmal Einen aus Allen vollkommen zu erkennen im Stande sind. Dies ist von Gott so angeordnet, auf daß Jeder in sich selbst Genüge finde, wenn er gleich Andere bewundert, und auf daß ihm in seinem Heimathlande sein Geburtsort viel schöner vorkomme, eben so hinsichtlich der Landesgebräuche, Landessprache etc. So herrscht Einheit und Friede ohne Mißgunst, so weit dies nur immer möglich ist; denn vollkommen herrscht der Friede nur bei Denen, die mit dem herrschen, der unser alle Sinne übersteigender Friede ist.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 73-76.
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