[Aus dem Jahre 1860]

[77] Sage mir, teurer Freund, warum du so lang nicht geschrieben?

Immer hab ich geharrt, Tage und Stunden gezählt.

Denn ein gar süßer Trost ist ein Brief vom Freunde entsendet,

So wie ein sprudelnder Quell durstige Wandrer erquickt.

Viel auch ist mir wert die Kunde von deinem Befinden:

Habe auch ich doch einst ähnliche Wege gewallt,

Habe so Freud' wie Leid mit dir zusammen genossen,

Und in Freundesverein wurde das Schwerste uns leicht.

Freilich weiß ich recht wohl: Schuljahre sind schwierige Jahre,

Nie wird jegliche Last, Mühe und Arbeit gescheut.

Oft auch möchte die Seele sich los von den hemmenden Fesseln

Reißen, in Einsamkeit flüchten das fühlende Herz;

Aber auch diesen Druck erleichtert die treuliche Freundschaft,

Die sich stets voll Trost, voll von Erhebung uns naht.

Unter Freunden ist nichts, was der eine dem andern verbürge;

Alles teilen sie sich mit im vertrauten Gespräch.

Ist auch der eine entfernt, die Liebe durchsegelt die Lüfte,[77]

Und in Gestalt eines Briefs naht sie dem einsamen Freund.

Teurer! Bald nahet der Tag wo auch wir uns wieder erblicken,

Und des trauten Gesprächs lang schon entbehrten uns freun.

Aber nur kurz ist die Freud'! Denn bald enteil' ich von neuem,

Nicht nach Pforta zurück, wo nur die Strenge regiert,

Nicht nach dem Fichtelgebirg dem düsteren, nein, in die Heimat!

Ach wohl zum letztenmal grüß ich den teuersten Ort!

Doch – die Entfernung hemmt nicht der Seelen stete Verbindung,

Et manet ad finem longa tenaxque fides!


Pforta, den 6. 3. 1860

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 77-78.
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