Die Schillerfeier in Pforta

[75] Den 8. 12. 1859

Der hundertjährige Geburtstag Schillers hatte bei allen Verehrern des großen Deutschen den Wunsch einer allgemeinen Gedächtnisfeier angeregt. Und nicht nur die Gebildeten, nein, auch die untern Stände des Volkes nahmen lebhaft an diesem Nationalfeste Anteil. Über die Grenzen Deutschlands hinaus war das Gerücht hiervon gedrungen; fremde Länder, ja ferne Erdteile trafen großartige Vorbereitungen zu diesem Tage, so daß man wohl behaupten kann, daß noch kein Schriftsteller ein allgemeineres Interesse hervorgerufen hat, als Schiller. Aber wodurch konnte man den Dichter würdiger feiern, als durch die Aufführung seiner hohen Werke? Was vermöchte uns mehr an ihn zu erinnern, als seine eignen Geistesprodukte, der Spiegel seines großen Geistes? Und so wurden auch an diesem Tage in allen Schauspielhäusern nur schillersche Stücke gegeben, in geschlossenen Gesellschaften vorzügliche Szenen aus seinen Dramen aufgeführt, ja fast in[75] jedem Hause wurde er auf irgendeine Weise gefeiert; ein Band aber schlang sich um alle Herzen, das Band der Liebe und Verehrung für den großen Toten. Auch Pforta wollte nicht hinter den allgemeinen Bestrebungen zurückbleiben: schon lange Zeit vorher waren Vorbereitungen zu diesem Tag getroffen. Am Mittwoch fand eine Vorfeier im Turnsaal statt, der hierzu festlich ausgeschmückt war. Eine große Menschenmenge hatte sich in ihm versammelt; der Name »Schiller« schwebte auf aller Munde, und aller Augen auf seiner lorbeerbekränzten Büste. Zuerst wurden die Piccolomini von den Primanern gelesen; die Rolle des Wallenstein hatte Herr Prof. Koberstein übernommen. – Eine hehre Heldengestalt trat vor unsre Augen, die sich kühn über die beengenden Verhältnisse des Lebens hinwegsetzt, einem Ziele nur nachstrebend, das in des Herzens tiefsten Grunde verborgen liegt und alle Handlungen lenkt und leitet. Um sie eine Schar von Feldherrn; die einen in feiger Selbstsucht die Heldengröße ihres Herrn verkleinernd, die andern treu ihm allein ergeben und für sein Wohl wie um das ihrige besorgt. Diesen gegenüber erscheint ein kaiserlicher Hofmann, in allen Schlichen und Redekünsten gewandt, aber doch an der gewaltigen Majestät Wallensteins scheiternd. Und nur ein Schiller konnte uns in so klaren Umrissen den großartigen Charakter dieses Helden vorführen, der über seine Zeit erhaben stolz auf alles Niedrige niederblickt. –

Den zweiten Teil der Vorfeier bildete die Aufführung der Glocke, komponiert von Romberg. Dieses edle Werk versetzte uns durch die Gewalt der Töne in all die Situationen und Lebensbilder, die die Glocke vor uns aufrollt. Wir gerieten in Angst bei der Verwirrung der Feuersbrunst, wir trauerten mit bei den ernsten Klagegesängen, wir wurden erschreckt über die wilden Melodien der Revolution, bis sich unsre Gemüter wieder in der Milde der Friedenschöre beruhigten. Kaum waren die letzten Töne verklungen, da betrat Herr Prof. Koberstein die Bühne und beschloß mit dem edlen Epilog Goethes die Vorfeier. –

Am folgenden Tage fielen die Lektionen der Feier wegen aus. Um zehn Uhr war wiederum Aktus im Turnsaal, der mit zwei schillerschen Chören »Frisch auf, Kameraden« und »Freude, schöner Götterfunken« begann. Gedichte einiger Primaner zu Ehren Schillers[76] wechselten nun mit Arien und Balladen ab, bis endlich Herr Prof. Koberstein die Bühne betrat und die Festrede hielt. Er vergegenwärtigte uns in derselben die Zeit vor Schillers Auftreten und entwickelte dann seine literarische Wichtigkeit für die deutsche Nation und schloß endlich mit dem Gedanken »dieses Nationallest sei ein bedeutsames Vorzeichen für das wiedererwachte deutsche Nationalgefühl, und man könne an diese Feier schöne Hoffnungen für die Zukunft knüpfen.« –

Nach dem Festessen war dann allgemeiner Spaziergang bis drei Uhr. Die folgenden Stunden verbrachte jeder mit Lesen von Schillers Werken usw. bis endlich Tanz bis zehn Uhr die Feierlichkeiten beschloß. Die Primaner indessen vergnügten sich bei einem Ball noch bis spät in die Nacht hinein. Der folgende Morgen führte uns wieder in das Gleis des gewöhnlichen Lebens: ein hoher und edler Gedanke war aber allen geblieben, nämlich den Manen Schillers ein würdiges Totenopfer gebracht zu haben. –

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 75-77.
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