[Aus dem Jahre 1862]

[105] Ich bitte im voraus, die Behandlung meiner eignen Gedichte mir nicht als eitles Selbstinteressantsein aufzufassen. Ich stehe den Zeiten, die ich mit ihren Wirkungen auf mich darzustellen versuche, zu fern, um selbstgefällige Kritiken zu schreiben. Im Gegenteil denke ich zu zeigen, nicht wie man Dichter ist, geboren wird, sondern wie man Dichter wird, d. h. wie aus dem fleißigen Reimschmied bei wachsender geistiger Fähigkeit auch schließlich ein wenig Dichter werden kann. Dies zur Vorbemerkung.

Es ist nicht nur interessant, sondern sogar notwendig, sich die Vergangenheit, die Jahre der Kindheit insbesondere, so treu wie möglich vor Augen zu stellen, da wir nie zu einem klaren Urteil über uns selbst[105] kommen können, wenn wir nicht die Verhältnisse, in denen wir erzogen sind, genau betrachten und ihre Einflüsse auf uns abmessen. Wie sehr auf mich das Leben meiner ersten Jahre in einem stillen Pfarrhaus, der Wechsel großen Glückes mit großem Unglück, das Verlassen des heimatlichen Dorfes und die mannigfaltigen Ereignisse des Stadtlebens einwirkten, glaube ich noch täglich an mir wahrzunehmen. Ernst, leicht Extremen zuneigend, ich möchte sagen, leidenschaftlich ernst, in der Vielseitigkeit der Verhältnisse, in Trauer und Freude, selbst im Spiel, –

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 105-106.
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