Chronik der Germania

[99] Am 22. September 1862

Wenn das vorige Quartal eine große Regsamkeit der Germaniamitglieder zeigte, die sich schließlich zu einem höchst interessanten Konvente gipfelte, wenn wir deshalb am 14. April dieses Jahres mit Berechtigung die Hoffnung aussprachen, daß die eifrige Tätigkeit oder vielmehr der tätige Eifer, mit dem wir unsere Germania auszubilden und zu erweitern suchten, allmählich die Exklusivität der bisherigen Leistungen verschwinden lassen werde, so geschah dies mit spezieller Bezugnahme auf die Politik und neuere Geschichte, und sodann namentlich auf die bisher nicht berücksichtigten Künste.

Seit dem April sind nun fünf Monate verflossen, deren Resultate für die Germania durchaus ungünstig sind. Sei es, daß die Verhältnisse dagegen wirkten – denn man weiß, wie Schularbeiten, Tanzstunden, Herzenssachen, politische Aufregungen usw. die leichten Verhaue unsrer Germaniastatuten niederwerfen – sei es auch, daß wir nur einem Gesetz der historischen Notwendigkeit unterliegen, dem der Reaktion nach einer starken Regsamkeit (unsern Freund Pinder nehme ich aus, der dies als unchristlich verdammt und prinzipiell Schulzwang vorwälzt), sei dem nun, wie ihm wolle, die Tatsache steht fest, daß ein Verfassungsbruch geschehn ist, daß die Heiligkeit der Statuten verletzt, daß die Germania in innerer Zerstreuung, Zerrissenheit und Apathie fast zugrunde gegangen wäre. Finanzielle Indifferenzen und Ungesetzlichkeiten charakterisieren den Anfang dieser Periode – wie alle großen Brüche mit der Vergangenheit, Reformation und Revolution mit einem Finanzschwindel sich ankündigten –. Ein Zeichen aber für die immer noch gesunde Natürlichkeit unsrer Germania scheint mir in dem jetzt allseitig erwachenden Bewußtsein zu liegen, daß wir sämtlich gesündigt und in der Gegenwart für eine doppelt gesteigerte Tätigkeit und Regsamkeit Sorge zu tragen haben. Dies Bewußtsein möge uns bei der heutigen Regenerierung unsrer Germania leiten und uns zu einer inneren Kräftigung derselben die passenden Mittel in die Hand geben.

Unsre heutige Tätigkeit wird sich deshalb vorzüglich auf folgende Punkte konzentrieren müssen:[99]

  • 1. Wie kann und bis wann muß ein jeder seine noch fehlenden Einsendungen nachliefern?
  • 2. Wie beseitigen wir unsre finanzielle Not und wie regulieren wir unsre Einkaufsstatuten?
  • 3. Wie ordnen wir überhaupt unsre Statuten, um Überschreitungen, wie die vorliegenden unmöglich zu machen?
  • 4. Durch welches Mittel werden wir am meisten zu eifriger Tätigkeit angeregt?

Ich erlaube mir, eine kurze Beantwortung dieser Fragen Ihnen vorzulegen.

Zuerst nun muß ein jeder seine bisherigen Einsendungen zählen und nachsehn, wie viele noch von 25 gesetzlichen Einsendungen fehlen. Dazu wird es nötig sein, daß einer mit möglichster Sorgfalt eine Liste sämtlicher Lieferungen veranstaltet und den betreffenden Monat zu jeder Einsendung bemerkt. Von der Zahl der fehlenden Lieferungen und den Erklärungen des betreffenden Mitglieds wird es abhängen, bis zu welcher Zeit er alles nachliefern und ergänzen wolle. Sind diese Erklärungen gegeben, und schriftlich konstatiert, so beantrage ich ein allgemeines Amnestiegesetz für die einzelnen Mitglieder. Schließlich versichert Verfasser, nachweisen zu können, daß von ihm sämtliche 25 Aufsätze, Gedichte und Kompositionen geliefert oder vielmehr wenigstens zur Abschreibung oder Ablieferung vorrätig liegen. Seine Vergehungen beziehen sich mehr auf das pekuniäre Gebiet. Von Gustav Krug liegen mir etwa elf musikalische Einsendungen und etwa sieben Gedichte und Aufsätze vor; ich verbürge mich indes nicht für die Richtigkeit dieser Zahlen, ebensowenig bei Wilhelm Pinder, wo ich mich etwa nur an 16 Aufsätze und Gedichte erinnern kann.

Unsre finanziellen Nöte schreiben sich insbesondere von der Anschaffung Tristans und Isoldens von R. Wagner her, die auf Antrag G. Krugs erfolgt ist. Wie er sich selbst erboten hat, verzichtet er auf die nächsten Anrechte des Neuankauts, und ich bitte ihn, sich darüber genau und schriftlich zu erklären. Sodann fehlen noch die Geldbeiträge einiger Mitglieder seit einiger Zeit, zu denen sich Verfasser selbst bekennt; zu loben für im allgemeinen pünktliche Bezahlung ist Mitglied G. Krug. Ich veranlasse die einzelnen, die Termine zu bestimmen, bis zu denen alles Fehlende nachgeliefert ist. Schließlich fordere[100] ich den Kassenrendanten auf, die Verwaltung des Germaniavermögens in dieser Chronik zu fixieren und Ausgaben und Einnahmen bis aufs genauste zu berechnen.

Über den dritten Punkt, die Ordnung der Statuten, erwarte ich einen Antrag eines Mitgliedes, an den wir die Diskussion anschließen wollen.

Es bleibt noch übrig, meinen schon gemachten Vorschlag zu einem Preisthema als besonderes Anregungsmittel der einzelnen Mitglieder allseitig zu genehmigen und die bestimmten Termine schriftlich niederzulegen.

Zum Schluß erlaube ich mir noch die Bitte, das Amt eines Chronisten auch noch bis Weihnachten fortzuführen, indem ich bis jetzt keine Tätigkeit in dieser Beziehung entwickeln konnte. Ich werde Weihnachten in meiner Überschau über die Leistungen des vergangenen Jahres wieder an unsre Ostersynode anknüpfen und die bis dahin nachgelieferten Einsendungen den Monaten nach besprechen.

Ich endige mit dem Wunsch, daß unsre heutige improvisierte Synode nicht nur eine Luftblase sein möge, die aus der Verdumpfung und Versumpfung unsrer Germania aufsteigt, sondern ein entschiedener Reinigungsprozeß, eine Scheidung alles Faulen und Verderblichen, eine Läuterung der reinen und edlen Bestandteile, auf denen sie gegründet ist.


FWNietzsche, Chronist

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 99-101.
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