Ein Silvestertraum

[118] Es ist still in meiner Stube, dann und wann knistern die Kohlen im Ofen, ich habe die Lampe niedergeschraubt, und es ist keine Helle im Zimmer, nur daß einige feurige breite Streifen zitternd vom Ofen aus am Boden und an dem Mahagoni meines Pianinos hingleiten.[118]

Es sind die letzten Stunden vor Mitternacht; ich habe bis jetzt in meinen Manuskripten und Briefen gewühlt, heißen Punsch getrunken und dann das Requiem aus dem Manfred Schumanns gespielt. Jetzt verlangt es mich, alles Fremde zu lassen und nur an mich zu denken.

Drum schür ich noch einmal das Feuer, stütze dann meinen Kopf auf die linke Hand und die Sofaecke, schließe die Augen und denke nach. Der Geist durchfliegt schnell die ihm lieben Stätten und weilt in Naumburg, dann in Pforte und Plauen – und kehrt endlich zurück in mein Zimmer. In mein Zimmer? Doch was seh ich auf meinem Bett? Dort liegt jemand – er stöhnt leise, röchelt – ein Sterbender!

Und nicht allein! Herum wie Schatten steht und schwebt es. Ja die Schatten sprechen. »Du böses Jahr, was hast du mir verheißen und was gehalten? Ich bin elender als je, und du sagtest mir, daß ich Glück haben sollte. Sei verflucht!«

»Du liebes Jahr, du schautest mich zuerst so finster an, aber dein Mai tröstete mich, und dein Herbst war des Maies wehmütiger Nachklang. Sei gesegnet!«

»Du altes Jahr, viel Mühe hast du mir gemacht, aber hast mich auch entschädigt. Wir sind uns nichts schuldig, lebe wohl!«

»Ich habe gewartet und sehnlich ausgeschaut, wann du meine Wünsche erfüllen wirst. Tue es jetzt, in deiner letzten Stunde, hilf mir.«

Alles blieb stumm. Das alte Jahr röchelte leise, in genauen Zwischenräumen. Es klang wie ein Seufzer.

Plötzlich wurde alles hell. Die Wände des Zimmers flogen zurück, die Decke schwebte empor. Ich sah nach dem Bett. Das Bett war leer. Ich hörte eine Stimme:

»Ihr Toren und Narren der Zeit, die nicht und nirgends ist außer in euren Köpfen! Ich frage euch, was habt ihr getan? Wollt ihr sein und haben, was ihr hofft, worauf ihr harrt, so tut das, was euch die Götter als Probe vor den Kampfpreis gestellt haben. Wenn ihr reif seid, wird die Frucht fallen, eher nicht!«

Da hob über mir der Zeiger aus, alles verschwand, es schlug zwölf, auf den Straßen rief man laut: »Hoch das neue Jahr!« –[119]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 118-120.
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