Mein Leben
[Aus dem Jahre 1864]

[116] Die Zwecke einer Lebensbeschreibung sind sehr mannigfaltig und bedingen daher auch durchaus verschiedne Arten der Ausführung. Im vorliegenden Falle muß es mir darauf ankommen, einer Schule, deren Einfluß ich das Meiste und Eigentümlichste meiner geistigen Ausbildung verdanke, ein Bild eben dieser geistigen Ausbildung als Vermächtnis zu hinterlassen, entworfen in dem Punkte, wo ich im Begriff stehe, durch das Aufgeben einer alten, gewohnten Ordnung und durch das Hineinleben in weitere und höhere Bildungskreise meinem Geiste neue Bahnen vorzuzeichnen und hiermit eine neue Entwicklung zu beginnen.

Von Wendepunkten, die bis jetzt mein Leben in Teile zerlegen, nenne ich vornehmlich zwei: den Tod meines Vaters, des Landgeistlichen zu Röcken bei Lützen, und den dadurch veranlaßten Umzug[116] unsrer Familie nach Naumburg; ein Ereignis, das meine ersten fünf Lebensjahre abschließt. Sodann meinen Übergang vom Naumburger Gymnasium nach Pforte, der in mein vierzehntes Jahr fällt. Von der frühsten Periode meiner Kindheit weiß ich wenig; was mir davon erzählt worden ist, erzähle ich nicht gern wieder. Sicherlich hatte ich vortreffliche Eltern; und ich bin überzeugt, daß gerade der Tod eines so ausgezeichneten Vaters, wie er mir einerseits väterliche Hilfe und Leitung für ein späteres Leben entzog, andrerseits die Keime des Ernsten, Betrachtenden in meine Seele legte.

Vielleicht war es nun ein Übelstand, daß meine ganze Entwicklung von da an von keinem männlichen Auge beaufsichtigt wurde, sondern daß Neubegier, vielleicht auch Wissensdrang mir die mannigfachsten Bildungsstoffe in größter Unordnung zuführte, wie sie wohl geeignet waren, einen jungen, kaum dem heimatlichen Nest entschloffenen Geist zu verwirren und vor allem die Grundlagen für ein gründliches Wissen zu gefährden. So kennzeichnet diese ganze Zeit vom neunten bis zum fünfzehnten Jahre eine wahre Sucht nach einem »Universalwissen«, wie ich es zu nennen pflegte; auf der andern Seite wurde das kindliche Spiel nicht vernachlässigt, aber doch auch mit fast doktrinärem Eifer betrieben, so daß ich z. B. über fast alle Spiele kleine Büchlein geschrieben habe und sie meinen Freunden zur Kenntnisnahme vorlegte. Durch einen besonderen Zufall aufgeweckt, begann ich im neunten Jahre leidenschaftlich die Musik, und zwar sogleich komponierend, wenn anders man die Bemühungen des erregten Kindes, zusammenklingende und folgende Töne zu Papier zu bringen und biblische Texte mit einer phantastischen Begleitung des Pianoforte abzusingen, komponieren nennen kann. Desgleichen machte ich entsetzliche Gedichte, aber doch mit größter Beflissenheit. Ja, ich zeichnete sogar und malte.

Wie ich nach Pforte kam, hatte ich so ziemlich in die meisten Wissenschaften und Künste hineingeguckt und fühlte eigentlich für alles Interesse, wenn ich von der allzu verstandesmäßigen Wissenschaft der mir allzu langweiligen Mathematik absehe. Gegen dieses planlose Irren in allen Gebieten des Wissens empfand ich aber mit der Zeit einen Widerwillen; ich wollte mich zu einer Beschränkung zwingen, um einzelnes gründlich und innerlich zu durchdringen. Dies Bestreben[117] konnte sich behaglich zur Geltung bringen in einem kleinen wissenschaftlichen Verein, den ich mit zwei gleichgesinnten Freunden zur Förderung unsrer Ausbildung gründete. Die monatliche Einlieferung von Abhandlungen und Kompositionen und deren Kritik, sowie vierteljährliche Zusammenkünfte zwangen den Geist, kleine aber anregende Gebiete genauer zu betrachten und auf der andern Seite durch ein gründliches Erlernen der Kompositionslehre der verflachenden Einwirkung des »Phantasierens« entgegenzuarbeiten.

Zugleich erwuchs zunehmend meine Neigung für klassische Studien; ich gedenke mit der angenehmsten Erinnerung der ersten Eindrücke des Sophokles, des Äschylos, des Plato, vornehmlich in meiner Lieblingsdichtung, dem Symposion, dann der griechischen Lyriker.

In diesem Streben nach zunehmender Vertiefung des Wissens stehe ich noch jetzt; und es ist natürlich, daß ich über meine eignen Leistungen meistens ebenso geringschätzend denke, wie oft auch über die anderer, weil ich fast in jedem zu behandelnden Stoff eine Unergründlichkeit oder wenigstens eine schwere Ergründlichkeit finde. Es sei darum auch meine einzige Arbeit erwähnt, mit der ich in meiner Schullaufbahn fast zufrieden war: meine Abhandlung über die Ermanarichsage.

Jetzt, wo ich im Begriff bin, auf die Universität zu gehn, halte ich mir als unverbrüchliche Gesetze für mein ferneres wissenschaftliches Leben vor: die Neigung zu einem verflachenden Vielwissen zu bekämpfen, sodann meinen Hang, das einzelne auf seine tiefsten und weitesten Gründe zurückzuführen, noch zu fördern. Scheinen diese Neigungen sich aufzuheben, so ist dies gewiß in einzelnen Fällen nicht unrichtig, und ich bemerke mitunter in mir etwas Ähnliches.

Im Kampf mit der einen, in der Förderung der andern hoffe ich zu siegen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 116-118.
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