Über Stimmungen

[113] Man vergegenwärtige sich, wie ich am Abende des ersten Ostertages in einen Schlafrock eingehüllt zu Hause sitze; draußen regnet es fein; niemand ist sonst im Zimmer. Ich starre lang auf das vor mir liegende weiße Papier, die Feder in der Hand, ärgerlich über die wirre Menge von Stoffen, Ereignissen und Gedanken, die alle niedergeschrieben zu werden verlangen; und manche verlangen es sehr stürmisch, da sie noch jung und gärend wie Most sind; dagegen sträubt sich aber mancher alte, ausgereifte, geklärte Gedanke, wie ein alter Herr, der mit zweideutigem Blick die Bestrebungen der jungen Welt mißt. Sagen wir es offen, unsre Gemütsverfassung ist durch den Streit jener alten und jungen Welt bestimmt, und wir nennen die jedesmalige Lage des Streites Stimmung oder auch, etwas verächtlich, Laune.

Als guter Diplomat erhebe ich mich etwas über die zwistigen Parteien und schildere den Zustand des Staates mit der Unbefangenheit eines Mannes, der Tag für Tag aus Versehn allen Parteisitzungen beiwohnt und denselben Grundsatz praktisch anwendet, den er auf der Tribüne verspottet und auszischt.

Gestehn wir es, ich schreibe über Stimmungen, indem ich eben jetzt gestimmt bin; und es ist ein Glück, daß ich gerade zum Beschreiben der Stimmungen gestimmt bin.

Ich habe an diesem Tage viel die Consolations von Liszt gespielt, und ich fühle, wie die Töne in mich eingedrungen sind und in mir vergeistigt widerklingen. Und ich habe kürzlich eine schmerzliche Erfahrung gemacht und einen Abschied oder einen Nichtabschied erlebt, und nun merke ich, wie dies Gefühl und jene Töne sich miteinander verschmolzen haben und glaube, daß die Musik mir nicht gefallen haben würde, wenn ich nicht diese Erfahrung gemacht. Das Gleichartige also sucht die Seele an sich zu ziehen, und die vorhandne Masse von Empfindungen drückt die neuen Ereignisse, die das Herz treffen, aus wie eine Zitrone, doch immer so, daß nur ein Teil des Neuen sich mit dem Alten vereinigt, daß aber doch ein Rest bleibt, der noch nichts Verwandtes in der Seelenwohnung findet und deshalb allein sich hier einlogiert, recht oft zur Unlust der alten Bewohner, mit denen er darum oft in Streit gerät. Aber siehe! da kommt ein Freund, da öffnet[113] sich ein Buch, dort geht ein Mädchen, horch! da klingt Musik! – Schon strömen wieder von allen Seiten neue Gäste in das allen offenstehende Haus und der eben Alleinstehende findet viele und edle Verwandte.

Aber es ist wundersam; nicht die Gäste kommen, weil sie wollen, oder nicht die Gäste kommen, wie sie sind; sondern es kommen die, welche müssen und nur eben die, welche müssen. Alles, was die Seele nicht reflektieren kann, trifft sie nicht; da es aber in der Macht des Willens steht, die Seele reflektieren zu lassen oder nicht, trifft die Seele nur das, was sie will. Und das scheint vielen widersinnig; denn sie erinnern sich, wie sie sich gegen gewisse Empfindungen sträuben. Aber was bestimmt schließlich den Willen? Oder wie oft schläft der Wille und nur die Triebe und Neigungen wachen! Eine der stärksten Neigungen der Seele aber ist eine gewisse Neubegierde, ein Hang nach dem Ungewohnten, und aus diesem erklärt sich, warum wir oft uns in unangenehme Stimmungen versetzen lassen.

Aber nicht nur durch den Willen nimmt die Seele an; die Seele ist aus demselben Stoff aus dem die Ereignisse gemacht sind oder aus ähnlichem und so kommt es, daß ein Ereignis, das keine verwandte Saite trifft, doch mit der Last der Stimmung schwer auf der Seele liegt und allmählich ein solches Übergewicht erlangen kann, daß es den andern Inhalt der Seele zusammendrückt und einengt.

Stimmungen kommen also entweder aus innern Kämpfen oder aus einem äußern Druck auf die innere Welt. Hier ein Bürgerkrieg zweier Heerlager, dort eine Bedrückung des Volkes von seiten eines Standes, einer kleinen Minorität.

Ist mir's doch oft, wenn ich meine eignen Gedanken und Gefühle belausche und stumm auf mich achte, als ob ich das Summen und Brausen der wilden Parteien hörte, als ob ein Rauschen durch die Luft ginge, wie wenn ein Gedanke oder ein Adler zur Sonne fliegt.

Kampf ist der Seele fortwährende Nahrung, und sie weiß sich aus ihm noch genug Süßes und Schönes herauszunehmen. Sie vernichtet und gebiert dabei Neues, sie kämpft heftig und zieht den Gegner doch sanft auf ihre Seite zu inniger Vereinigung. Und das Wunderbarste ist, daß sie nie auf das Äußre achtet, Name, Personen, Gegenden, schöne Worte, Schriftzüge, alles ist ihr von untergeordnetem Werte, aber sie schätzt das, was in der Hülle ruht.[114]

Das, was jetzt vielleicht dein ganzes Glück oder dein ganzes Herzeleid ist, wird vielleicht in kurzem nur noch das Gewand eines noch tiefern Gefühls sein und wird darum in sich verschwinden, wenn das Höhere kommt. Und so vertiefen sich immer mehr unsre Stimmungen, keine einzige gleicht einer andern genau, sondern jede ist unergründlich jung und die Geburt des Augenblicks.

Ich denke jetzt an manches, was ich liebte; Namen und Personen wechselten und ich will nicht behaupten, daß wirklich ihre Naturen immer liefer und schöner geworden wären; wohl aber ist es wahr, daß jede dieser ähnlichen Stimmungen für mich einen Fort schritt bedeutet, und daß es dem Geist unerträglich ist, dieselben Stufen, die er durchschritt, noch einmal zu durchschreiten; immer mehr in Tiefe und Höhe will er sich breiten.

Seid mir gegrüßt, liebe Stimmungen, wundersame Wechsel einer stürmischen Seele, mannigfach wie die Natur ist, aber großartiger als die Natur ist, da ihr ewig euch steigert, ewig aufstrebt; die Pflanze aber duftet noch jetzt wie sie am Tage der Schöpfung duftete. Ich liebe nicht mehr, wie ich vor Wochen liebte; ich bin in diesem Augenblick nicht mehr so gestimmt, wie ich es beim Beginn des Schreibens war. –


Ich versucht es erst in Tönen: siehe, es ging nicht; weiter stürmte das Herz; und der Ton blieb tot. Ich versucht es dann in Versen; nein, nicht Reime fassen's, nicht ruhige, gemessne Rhythmen. Fort Papier: ein neues her, und nun kritzle schnell Feder, nun rasch, Tinte!

Weicher Sommerabend; dämmernd und blaßstreifig. Kinderstimmen auf den Gassen; in der Ferne Lärm und Musik; es ist Messe; die Leute tanzen, bunte Laternen brennen, die wilden Tiere brummen, hier knallt ein Schuß, dort Paukengerassel, gleichmäßig, durchdringend.

Es ist etwas dunkel in der Stube; ich zünd ein Licht an; doch blickt des Tages Auge neugierig durch die halbverhangenen Fenster. O es möchte weiter sehn, mitten hinein in dies Herz, das heißer als das Licht, dämmernder als der Abend, bewegter als die Stimmen aus der Ferne, tief innerlich zittert und schwingt, wie eine große Glocke, die bei einem Gewitter geläutet wird.

Und ich erflehe ein Gewitter; zieht nicht das Glockenläuten die[115] Blitze an? Nun, so nahe Gewitter, läutere, reinige, blase Regendüfte in meine matte Natur, sei willkommen, endlich willkommen!

Sieh! Da zuckst du, erster Blitz, mitten hinein in das Herz, und daraus steigt's wie ein langer, fahler Nebel aufwärts. Kennst du ihn, den düstern, tückischen? Schon blickt mein Auge heller, und meine Hand strecke ich nach ihm aus, um ihm zu fluchen. Und der Donner murrt; und eine Stimme erscholl: »Sei gereinigt.«

Dumpfe Schwüle; mein Herz schwillt. Nichts regt sich. Da, ein leiser Hauch, am Boden zittert das Gras – sei mir willkommen, Regen, lindernder, erlösender! Hier ist's öde, leer, tot; pflanze du von neuem.

Sieh: Ein zweiter Schlag! Grell und zweischneidig mitten ins Herz! Und eine Stimme scholl: »Hoffe.«

Und ein weicher Duft zieht aus dem Boden, ein Wind flattert heran, und ihm folgt der Sturm, heulend und seine Beute haschend. Abgeknickte Blüten jagt er vor sich her. Der Regen schwimmt lustig dem Sturm nach.

Mitten durchs Herz. Sturm und Regen! Blitz und Donner! Mitten hindurch! Und eine Stimme scholl: »Werde neu!«

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 113-116.
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