26.
An Carl von Gersdorff

[989] Naumburg, am 16. Febr. 1868


Lieber Freund, durch Deine beiden mich hocherfreuenden Briefe habe ich einen deutlichen Einblick in Dein gegenwärtiges Arbeiten und Denken gewonnen: ich fühle den ruhigen Genuß heraus, mit dem Du Dich nach straffem, einengendem Dienste wieder in dem schönen Garten der Wissenschaften ergehst. Wollte das Schicksal, daß auch mir dieser Genuß bald wieder winkte! Aber meine Zeit, ja mein bestes Teil geistiger Kraft und Regsamkeit verbraucht sich in dem ewigen Kreislauf militärischer Übungen. Ich habe mich darüber jetzt vollkommen resigniert, während ich in den ersten Monaten einen ungestümen Anlauf nahm, auch bei den jetzigen Verhältnissen meine Studien fortzusetzen. Es lag mir vornehmlich eine Arbeit am Herzen, zu der ich eine Menge schönes Material gesammelt hatte und täglich sammelte, eine Arbeit, an die mich philologisches und philosophisches Interesse knüpfte: über Demokrits Schriftstellerei. Die ungeheuren Angaben über dieselbe hatten mir Mißtrauen eingeflößt; ich ging dem Begriff einer großartigen literarischen Falschmünzerei nach und fand auf den verschlungenen Wegen der Kombination eine Fülle interessanter Punkte. Am Schlusse aber, als meine skeptische Betrachtung alle Folgerungen übersehn konnte, drehte sich mir allmählich unter den Händen das Bild herum; ich gewann ein neues Gesamtbild der bedeutenden Persönlichkeit Demokrits und von dieser höchsten Warte der Beobachtung gewann die Tradition ihr Recht wieder. Diesen ganzen Prozeß, die Rettung der Negation durch die Negation, habe ich mir nun zu schildern vorgenommen, so daß ich bei dem Leser dieselbe Folge von Gedanken zu erwecken suche, die mir sich ungesucht und kräftig aufdrangen. Dazu gehört aber Muße und frische Gesundheit des Denkens und Dichtens.

Nicht besonderes Glück habe ich bis jetzt mit meiner Arbeit de fontibus Laertii Diogenis gehabt, die längst gedruckt sein sollte, aber durch eine kleine Bummelei eines Bekannten erst in voriger Woche zum Druck nach Leipzig wanderte. Sie erscheint, wie meine Theognisstudie, im Rheinischen Museum. Sie ist schon ihres Stoffes wegen angetan, ein paar Philologen mehr zu fesseln resp. zu reizen als mein erstes opusculum. Es war nicht zu umgehen, daß ich hier und da einem[989] Philologen einen Klaps versetzte. Nun wir werden sehn, wie es mir bekommt. Glücklicherweise habe ich den größten Teil von Material gerade für wichtige Punkte noch gar nicht gegeben, so daß ich bei einer etwaigen Polemik immer noch mit vollen Händen werfen kann.

Später wenn ich mich von der Demokritarbeit frei gemacht habe, und eine Dissertation de Homero Hesiodoque aequalibus glücklich vom Stapel gelaufen ist: soll es mit frischen Sinnen an ein Hauptwerk gehen, an eine Darstellung der literarischen Studien der Alten, wobei sich die Entwicklung dessen, was man jetzt Literaturgeschichte nennt, ergeben wird. Später will ich Dir einmal erzählen, wie ich im Hintergrunde einige stark pessimistische Sätze aufstelle, so daß das Ganze stark von einem Schopenhauerschen Dufte umschwommen sein wird.

Verzeihe mir, wenn ich Dich mit lauter Aussichten und Absichten, jedenfalls mit unrealen Dingen unterhalte. Aber denke, wie stark im Menschen das Bedürfnis ist, seine Wünsche auszusprechen, und wie wenig meine Umgebung danach angetan ist, gerade derartige Dinge aufzunehmen. Im Grunde ist das gerade, was mich am meisten in Naumburg bedrückt, die erêmia tôn philôn, während ich andererseits mich glücklich schätzen muß, durch die Gegenwart der Angehörigen der Sorgen für das Dasein enthoben zu sein, ja eines bequemen Lebens mich erfreuen zu können.

Meine Dienstangelegenheiten nehmen, wie ich Dir sagte, viel Zeit weg, sind aber im ganzen erträglich. Besonders ist es immer noch das Reiten, für das man meinen Eifer durch mancherlei Lob rege erhält. Ich höre von den Offizieren, daß ich einen guten Sitz habe und mich dadurch vorteilhaft auszeichne. Wahrhaftig, lieber Freund, ich habe nie gedacht, daß ich auch in diesen Regionen noch Gelegenheit haben würde, eitel zu werden. Genug, mein Trieb, mich in dieser schönen, aber schweren Kunst möglichst auszubilden, ist ziemlich stark. Wenn Du einmal, etwa bei Gelegenheit des Pförtner Schulfestes nach Naumburg kommst, wirst Du meine Leistungen leicht abschätzen können; ich glaube Du wirst tüchtig lachen, wenn Du mich kommandieren hörst. Übrigens habe ich noch viel zu lernen, um ein anständiges Offiziersexamen zu machen.

Daß Du Dich mit viel Vergnügen auf nationalökonomische Studien geworfen hast, ist mir sehr begreiflich; ich selbst bedaure nichts mehr, als[990] bis jetzt eines tüchtigen Pfadzeigers ermangelt zu haben. Denn über Roschers Stellung und Wert haben wir zu meiner Überraschung genau dieselbe Meinung. Sowohl im Gespräch mit Freund Kleinpaul, der die Schwäche der philosophischen Natur Roschers völlig durchschaute, als in der Unterhaltung mit der geistvollen Gattin Ritschls, die auch die prickelnde Ungründlichkeit des witzigen Mannes herausfühlte, habe ich mich in dem angedeuteten Sinne ausgesprochen. Übrigens ist mir ein nicht geringer Beleg für die Richtigkeit dieser Meinung das Naturell seines Sohnes, das ich kennenzulernen Gelegenheit hatte, und das vollständig die Züge des Urbildes aufweist.

Ein Büchlein, aus dem ich über den Stand der sozial-politischen Parteien manches mir angeeignet habe, obgleich es eine bedenkliche Lektüre ist und scharf säuerlich nach Reaktion und Katholizismus schmeckt, ist Dir vielleicht auch bekannt: Geschichte der sozial-politischen Parteien in Deutschland, von Jos. Edm. Jörg (Freiburg im Breisgau 1867). Auch aus ihm leuchtet die irrationale Größe Lassalles hervor. Leider sehe ich keine Möglichkeit ab, wie ich dessen Schriften in meine Hände bekommen könnte, und ich muß mich daher auf spätere Zeiten vertrösten.

An dieser Stelle muß ich nochmals das Verdienst eines Mannes rühmen, von dem ich Dir schon früher einmal geschrieben habe. Wenn Du Lust hast Dich vollständig über die materialistische Bewegung unsrer Tage, über die Naturwissenschaften mit ihren Darwinschen Theorien, ihren kosmischen Systemen, ihrer belebten camera obscura etc. zu unterrichten, zugleich auch über den ethischen Materialismus, über die Manchester-Theorie etc., so weiß ich Dir immer nichts Ausgezeichneteres zu empfehlen als »Die Geschichte des Materialismus« von Friedr. Alb. Lange (Iserlohn 1866), ein Buch, das unendlich mehr gibt als der Titel verspricht und das man als einen wahren Schatz wieder und wieder anschauen und durchlesen mag. Bei Deiner Richtung der Studien weiß ich Dir nichts Würdigeres zu nennen. Ich habe mir schlechterdings vorgenommen, mit diesem Manne bekannt zu werden und will ihm meine Demokritabhandlung als ein Zeichen meiner Dankbarkeit schicken.

Übrigens gehört auch Spielhagen zu denen, mit welchen ich ein persönliches Verhältnis wünsche. Nun, vielleicht gibt sich in Berlin[991] einmal eine Annäherung. Ich wundre mich, daß Du nicht einmal dem ausgezeichneten Manne einen Besuch abstattest. Wir müssen uns unsre philosophischen Freunde etwas zusammensuchen. Auch Bahnsen, der Verfasser der »Charakterologischen Studien«, steht auf der Liste. Da ist ja auch Eugen Dühring in Berlin, der immer schöne Kollegien gelesen hat, z. B. über Schopenhauer und Byron, über Pessimismus etc. Endlich ist dort wohl auch Frauenstädt, der Protagonist des Kultus, aufzutreiben. Wenn wir doch nur ein Organ für die Bestrebungen vom Standpunkte Schopenhauers hätten, eine philosophische Zeitschrift, redigiert von jungen talentvollen Männern usw.

Aber, wirst Du sagen, es ist jetzt nicht die Zeit zu philosophieren. Und Du hast recht. Politik ist jetzt das Organ des Gesamtdenkens. Ich staune über die Ereignisse und kann sie mir nur dadurch näherbringen, daß ich mir die Wirksamkeit bestimmter Männer aus dem Flusse des Ganzen herausscheide und einzeln betrachte. Unmäßiges Vergnügen bereitet mir Bismarck. Ich lese seine Reden, als ob ich starken Wein trinke: ich halte die Zunge an, daß sie nicht zu schnell trinkt und daß ich den Genußrecht lange habe. Was Du mir von Machinationen seiner Gegner schreibst, glaube ich Dir sehr gern; denn es ist eine Notwendigkeit, daß sich gegen solche Naturen alles Kleinliche, Engherzige, Parteiische, Bornierte aufbäumt und zum unversöhnlichen Kriege rüstet.

Heute lieber Freund ein herzliches Lebewohl! Entschuldige, daß ich nicht mehr von meiner Zeit diesem liebsten meiner Geschäfte zuwenden darf, im geistigen Verkehr mit meinen Freunden zu weilen. Indem ich Dir noch die Grüße meiner Angehörigen ausrichte, verbleibe ich in treuer Anhänglichkeit

Dein Freund

Friedrich Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 989-992.
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