46.
An Richard Wagner

[1030] Basel, 10. Nov. am Luthertage [1870]


Verehrtester Meister, in dem ersten Ansturme des neuen Semesters, der diesmal, nach meiner langen Abwesenheit, besonders heftig ist, konnte mir nichts Erquicklicheres geschehen als die Übersendung Ihres »Beethoven«. Wie viel mir daran liegen mußte, Ihre Philosophie der Musik – und das heißt doch wohl: die Philosophie der Musik kennenzulernen, könnte ich Ihnen besonders an einem Aufsatze deutlich machen, den ich für mich in diesem Sommer schrieb, betitelt »die dionysische Weltanschauung«. In der Tat habe ich durch dies Vorstudium erreicht, daß ich die Notwendigkeit Ihrer Beweisführung vollständig und mit tiefstem Genusse einsehe, so entlegen der Gedankenkreis, so überraschend und in Staunen versetzend alles und namentlich die Ausführung über Beethovens eigentliche Tat ist. Doch fürchte ich, daß Sie den Ästhetikern dieser Tage als ein Nachtwandler erscheinen werden, dem zu folgen nicht rätlich, ja gefährlich, vor allem unmöglich gelten muß. Selbst die Kenner Schopenhauerscher Philosophie werden der größten Zahl nach außerstande sein, den tiefen Einklang zwischen Ihren Gedanken und denen ihres Meisters sich in Begriffe und Gefühle zu übersetzen. Und so ist Ihre Schrift, wie es Aristoteles von seinen esoterischen Schriften sagt »zugleich herausgegeben und nicht herausgegeben«. Ich möchte glauben, daß Ihnen, dem Denker, zu folgen, in diesem Falle nur für den möglich ist, dem der »Tristan« vornehmlich sich entsiegelt hat.

Deshalb betrachte ich die wirkliche Erkenntnis Ihrer Tonphilosophie als ein kostbares Ordens-besitztum, das einstweilen nur sehr wenigen zugute kommt. –[1030] In dem Manuskript sind gelegentlich einige doppelt zu setzende Buchstaben nur einfach geschrieben, z. B. in »appellieren, Apperzeption, supplieren«, was für den Setzer zu bemerken wäre. –

Ihr dankbarer und getreuer Friedrich Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1030-1031.
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