47.
An Erwin Rohde

[1031] Basel, Mittwoch, circa den 27. Nov.

[23. November 1870]


Absolution! Mein lieber Freund! Solche Jahre kommen sobald nicht wieder vor, und somit soll es sobald nicht wieder vorkommen, daß ich so lange Zeit über mich wie ein Grab schweige. Einmal lebe ich noch – den Schlingen der Ruhr und der Diphtherie bin ich zwar nicht entgangen und sie haben mich sattsam ruiniert, aber im ganzen bin ich jetzt wieder ein Mensch unter Menschen. Von meinen Kriegserlebnissen mag ich Dir nichts erzählen – warum hast Du sie nicht mitgemacht? Ich habe beiläufig nie eine Zeile von Deinen Briefen zu sehen bekommen, sie sind alle »im Felde« verschwunden! Ich hatte einen sehr wackern Reisegefährten, dem ich von Dir mancherlei erzählt habe, in dem Wunsche, daß er Dich kennenlernt. Suche dies doch zu ermöglichen, Du wirst Dich freuen. Er heißt Mosengel, ist Maler und wohnt Hamburg, Katharinenstr. 41. Es ist einer der besten Menschen, die mir vorgekommen sind und ein mir wohltuender Landschaftenmaler. Er hat viel Verdienste um mich, zuletzt hat er mich noch in meiner Krankheit gepflegt.

Jetzt bin ich wieder in voller Tätigkeit und lese zwei Kollegien, Hesiod und Metrik, sodann Akademika im Seminar und Agamemnon im Pädagogium. Wie steht es denn mit Dir? Bist Du auch bereits im akademischen Joche? Wenn – nun dann Glückauf zur fröhlichen Jagd! Und zur Wanderung mit der Diogeneslaterne!

Ich rekapituliere kurz, daß mir manches Freudige widerfahren ist. Erstens gibt es von Wagner einen großen Aufsatz über Beethoven, der eine Philosophie in Schopenhauers Geist und Wagners Kraft enthält. Er wird bald gedruckt sein. Frau Wagner fragte bei mir brieflich an, ob Du auch mit im Felde seist und wie es Dir ginge. – Zweite Freude: Jacob Burckhardt liest jetzt allwöchentlich über das Studium der Geschichte,[1031] in Schopenhauers Geist – ein schöner aber seltner Refrain! Ich höre ihn. Dritte Freude: an meinem Geburtstag hatte ich den besten philologischen Einfall, den ich bis jetzt gehabt habe – nun, das klingt freilich nicht stolz, soll's auch nicht sein! Jetzt arbeite ich an ihm herum. Wenn Du mir es glauben willst, so kann ich Dir erzählen, daß es eine neue Metrik gibt, die ich entdeckt habe, der gegenüber die ganze neuere Entwicklung der Metrik von G. Hermann bis Westphal oder Schmidt eine Verirrung ist. Lache oder höhne, wie Du willst – mir selber ist die Sache sehr erstaunlich. Es gibt sehr viel zu arbeiten, aber ich schlucke Staub mit Lust, weil ich diesmal die schönste Zuversicht habe und dem Grundgedanken eine immer größere Tiefe geben kann. – Im Sommer habe ich einen größeren Aufsatz für mich geschrieben »Über dionysische Weltanschauung«, um mich bei dem einbrechenden Ungewitter zu beruhigen.

Jetzt weißt Du, wie es mir geht. Nimm noch dazu, daß ich die größte Besorgnis vor der herankommenden Zukunft habe (in der ich ein verkapptes Mittelalter zu erkennen wähne), auch daß meine Gesundheit schlecht ist – außer wenn ich Briefe von Freunden oder so schöne Abhandlungen bekomme, wie die Deinige aus dem Rhein. Museum. Es fällt mir ein, daß Vischer sich höchst interessiert und Dir sehr dankbar darüber aussprach.

Auch hast Du ja Dich um meinen agôn so verdient gemacht, habe herzlichen Dank dafür. Ritschl behauptet, Du seist kein Korrektor, ich habe mir nie angemaßt, mich dafür zu halten. So sind wir wenigstens in gleicher Verdammnis. – Sieh doch zu, daß Du aus dem fatalen kulturwidrigen Preußen herauskommst! wo die Knechte und die Pfaffen wie Pilze hervorschießen und bald mit ihrem Dunst uns ganz Deutschland verfinstern werden. – Nicht wahr, wir verstehen uns? Nicht? Und Du nimmst mir nichts krumm? Es wäre weiß Gott schade.

Adieu teurer Freund

F. N.


Meinen festlichen Geburtstagsgruß noch zu vermelden, ich wünsche Gesundheit, eine Professur und si placet – eine Frau.[1032]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1031-1033.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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