48.
An Carl von Gersdorff

[1033] Basel, 12. Dez. [1870]


Mein lieber Freund, was will ich glücklich sein, wenn Du die großen Ausfälle der letzten Wochen ohne jedes Leidwesen überstanden hast! Man darf nicht mehr an diese entsetzlichen Dinge denken, wenn man nicht allen Mut verlieren will.

Jetzt aber will ich Dir schreiben, in der Hoffnung, ja in der Voraussetzung, daß Du auch diesen fürchterlichen Gefahren entronnen bist, tapfer und glücklich, als ein Liebling des Kriegsgottes – doch ohne ihn wiederzulieben!

Wann nun wird Dich dieser Brief erreichen! Vielleicht zu Deinem Geburtstag; und wenn Du ihn diesmal heil und gesund erlebst, so mache es ja wie Polykrates und opfere den Dämonen!

Von mir empfange die neueste Schrift Wagners über »Beethoven«, als ein Symbol unserer innigen Gemeinsamkeit unseres Strebens und Denkens unter einer Fahne, unter derselben, auf welche als auf die allein zum Ziele führende Wagner in dieser Schrift hinweist. Ich habe sie in erhobener und ehrfürchtiger Stimmung gelesen. Es sind tiefe Geheimnisse darin, schön und schrecklich, wie die Musik selbst in ihren höchsten Äußerungen sich offenbart.

Von Tribschen habe ich Dir die Photographie Wagners zu übersenden, zugleich mit herzlichen Grüßen. Frau Wagner schrieb mir »Hier für den philosophischen Kämpfenden die versprochene Photographie; keinem hätte sie Wagner lieber geschickt als demjenigen, der seine Pflicht mutig erfüllend zugleich über das Wesen der Dinge nachzudenken nicht verschmäht.«

Nun noch etwas Erfreuliches. Du warst so gütig, mich aus Deinem Kriegslager auf eine Schrift aufmerksam zu machen, die für die Verbreitung des Schopenhauerschen Gedankenkreises auch in Frankreich bürgt. Einen großen Triumph erlebte ich jüngst, als ich in den Berichten der Wiener Akademie der Wissenschaften einen Aufsatz des Prof. Czermak fand über Schopenhauers Farbenlehre. Dieser konstatiert, daß Sch. selbständig und auf originellem Wege zu der Erkenntnis gekommen ist, die man jetzt als die Young-Helmholtzsche Farbentheorie bezeichnet: zwischen ihr und der Schopenhauerschen ist die wunderbarste, bis in die Bruchzahlen genaue Übereinstimmung.[1033] Der ganze Ausgangspunkt, daß die Farbe zunächst ein physiologisches Erzeugnis des Auges ist, sei zu allererst von Sch. dargelegt worden. Sehr bedauert wird, daß Sch. sich nicht von dem »wissenschaftlich unsinnigen« Goetheschen Theorem und seinem furor Anti-Newtonianus habe losmachen können. Übrigens nennt Czermak (kein Anhänger unseres Philosophen) Schopenhauer »den gewaltigsten Philosophen seit Kant«. Und damit müssen wir wohl zufrieden sein.

Diese Abhandlung und Wagners Zustimmung zur Schopenh. Lehre sind auch in ihrer Art Beiträge zum Hegel-Denkmal. Eigentlich polemischer Artikel bedarf es kaum mehr. Selbst das verdient für den Umschwung angeführt zu werden, daß Hartmanns Philosophie des Unbewußten – ein Buch, in dem jedenfalls die Probleme in Schopenhauerschem Sinne gestellt sind – jetzt bereits eine zweite Auflage erlebt hat. Laß nun mir noch ein paar Jahre Zeit, dann sollst Du auch eine neue Einwirkung auf die Altertumskunde spüren und damit hoffentlich verbunden auch einen neuen Geist in der wissenschaftlichen und ethischen Erziehung unsrer Nation.

Aber welche Feinde erwachsen jetzt auf dem blutigen Boden dieses Krieges für unsren Glauben! Ich bin hierin auf das Schlimmste gefaßt, zugleich in der Zuversicht, daß unter dem Übermaß von Leid und Schrecken hier und dort die Nachtblume der Erkenntnis aufgeht. Unser Kampf steht noch bevor – darum müssen wir leben! Darum habe ich auch das gute Zu trauen, daß Du gefeit bist; die Kugeln, die uns tötlich treffen sollen, werden nicht aus Gewehren und Kanonen geschossen! Und damit leb wohl! Lieber Freund!

In alter Treue Dein Friedrich Nietzsche


Inzwischen habe ich Deine Zeilen erhalten und bin herzlich erfreut, daß meine Voraussetzung die rechte war. Gebe der Dämon weiteres Glück! – Den »Beethoven« Dir jetzt zu schicken, erlaubt die Post nicht. Du bekommst ihn erst im Januar.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1033-1034.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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