89.
An Richard Wagner

[1105] Basel, den 24. Mai 1875


Meine Wünsche kommen hinterdrein gehinkt, Sie müssen es schon einmal verzeihen, geliebter Meister. Ich gedenke dabei meiner leiblichen Unsicherheit und Schwäche, und bewundere Ihre Rüstigkeit, mit der Sie sich in den letzten Jahren durch das Gewirr von neuen Aufgaben, Beschwerden, Ärger, Ermüdung hindurchgeschlagen[1105] haben; so daß ich nicht einmal das Recht habe, Ihnen in dieser Beziehung irgend etwas anzuwünschen. (Wenn ich doch lieber etwas von Ihnen lernen könnte!) Ich habe immer, wenn ich an Ihr Leben denke, das Gefühl von einem dramatischen Verlaufe desselben: als ob Sie so sehr Dramatiker seien, daß Sie selber nur in dieser Form leben und jedenfalls erst am Schlusse des fünften Aktes sterben könnten. Wo alles zu einem Ziele hin drängt und stürmt, da weicht der Zufall aus, er fürchtet sich, scheint es. Alles wird notwendig und ehern, bei der größten Bewegtheit: so, wie ich Ihren Ausdruck auf dem schönen Medaillon wiederfinde, mit dem ich neulich beschenkt worden bin. Wir andern Menschen flackern immer etwas, und so bekommt nicht einmal die Gesundheit etwas Stetiges.

Nun will ich nur erzählen, daß ich eine merkwürdig schöne Prophezeiung gefunden habe, welche ich Ihnen gerne zu Ihrem Geburtstage hätte schicken mögen.

Sie lautet so:


O heilig Herz der Völker, o Vaterland!

Allduldend gleich der schweigenden Mutter Erd'

und allverkannt, wenn schon aus deiner

Tiefe die Fremden ihr Bestes haben.

Sie ernten den Gedanken, den Geist von dir,

Sie pflücken gern die Traube, doch höhnen sie

die ungestalte Rebe, daß du

schwankend den Boden und wild umirrest.

Du Land des hohen ernsteren Genius!

Du Land der Liebe! Bin ich der Deine schon,

oft zürnte ich weinend, daß du immer

blöde die eigene Seele leugnest.

Noch säumst und schweigst du, sinnest ein freudig Werk,

das von dir zeuge, sinnest ein neu Gebild,

das einzig, wie du selber, das aus

Liebe geboren, und gut, wie du, sei.

Wo ist dein Delos, wo dein Olympia,

daß wir uns alle finden am höchsten Fest?

Doch wie errät dein Sohn, was du den

Deinen, Unsterbliche, längst bereitest? –
[1106]

Das sagt alles der arme Hölderlin, dem es nicht so gut wurde wie mir und der es nur in der Ahnung trug, was wir trauen und schauen werden.

Wahrhaftig, geliebter Meister, Ihnen zum Geburtstag schreiben, heißt immer nur: uns Glück wünschen, uns Gesundheit wünschen, um an Ihnen recht teilnehmen zu können. Denn ich sollte wirklich meinen: es ist das Kranksein, und der in der Krankheit lauernde Egoismus, wodurch sie gezwungen werden, immer an sich zu denken: während der Genius, in der Fülle seiner Gesundheit, immer nur an die andern denkt, unwillkürlich segnend und heilend, wo er nur seine Hand hinlegt. Jeder kranke Mensch ist ein Schuft, las ich neulich; und woran sind die Menschen nicht alles krank! Auf Ihren Reisen durch Deutschland werden Sie manches gehört haben, z. B. von der ganz allgemeinen Krankheit des »Hartmannianismus«.

Leben Sie wohl, verehrter Meister, und bleiben Sie das, was wir nicht sind, gesund.

Treuergeben Ihr Friedrich Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1105-1107.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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