93.
An Erwin Rohde

[1112] Basel, den 7. Oktober 1875


Gott weiß, mein geliebter Freund, in was für einem Lichte Du diesmal den Morgen Deines Geburtstags erblickest! Kommt Dir der Tag grau, ja greulich vor, so denke doch ein wenig mit daran, was Du mir, was Du uns bist und sei aus unserer Seele heraus dem Himmel dafür dankbar, daß Du lebst. Freue Dich einmal mit allen denen, welche Dich lieben, wenn Du aus Dir selber sonst nur Leid und Schwermut zu saugen weißt. Vielleicht aber erwartet Dich der Tag mit einem anderen Gesichte, mit einem freudigeren, ich weiß gar nicht, was sich inzwischen mit Dir begeben hat; und da ich mich ganz außerstande fühlte und noch fühle, Dir irgend nach einer Seite hin zu raten, so habe ich inzwischen auch nicht völlig verlernt zu hoffen, und zwar so wie Deine Liebe hoffte – daß alle Verdunkelungen aufgehellt, alles Zagen beseitigt ist, und daß Deinem edlen tapfern Sinne eine gleiche Gesinnung, eine gleiche Tapferkeit entspricht.

Über Deinen philologischen Vortrag hat mir bis jetzt Overbeck aus den Zeitungen noch nichts berichten können (ich lese keine Zeitungen mehr, seit dreiviertel Jahr). Ich denke. Du sendest mir den Vortrag? Wenigstens würde ich mir damit eine große Freude erbitten. Sonderbarerweise vergesse ich es fast immer mehr, daß wir als Philologen miteinander bekannt geworden sind; wir haben inzwischen so vieles Gemeinsame bekommen, daß ich das Ursprünglich-Gemeinsame kaum mehr besitze. Ich wurde neulich in fast erschreckender Weise daran erinnert, was man ist und was man gerade jetzt kann, da man sich in ein verzehrendes Antizipieren der Zukunft viel zu sehr eingelassen hat, um nicht alles gegenwärtige Können zu übersehen; mir wurde nämlich etwas aus einem Urteile J. Burckhardts über mich wiedererzählt (er hatte sich in Lörrach gegen einen ganz vertrauten Arzt ausgesprochen). Unter anderem hat er gesagt: »So einen Lehrer[1112] würden die Baseler nicht wieder bekommen.« Das gilt also meiner Tätigkeit am Pädagogium: also zu einem ordentl. Schulmeister hat's man wirklich gebracht, fast so nebenbei, denn bis diesen Augenblick habe ich nur mit Pflichtgefühl und ohne alles Selbstgefühl diesem Amte gedient, auch ohne Freude. Vielleicht gelingt mir's auch so nebenbei und beinahe gesagt im Schlafe noch zum Philologen zu werden; ich stecke so voll von allgemeinen Nöten, daß ich mich fast wie ein Handwerker mit der Philologie befasse, ich meine, wie mit einem Ding, was man zu allen Stunden treiben kann und muß, ohne daß man viel daran denkt.

Meine Betrachtung unter dem Titel »Richard W. in Bayreuth«. wird nicht gedruckt, sie ist fast fertig, ich bin aber weit hinter dem zurückgeblieben, was ich von mir fordere; und so hat sie nur für mich den Wert einer neuen Orientierung über den schwersten Punkt unserer bisherigen Erlebnisse. Ich stehe nicht darüber und sehe ein, daß mir selber die Orientierung nicht völlig gelungen ist – geschweige denn, daß ich anderen helfen könnte!

Auf den gleichen Punkt, doch nicht bis zu dem Grade der Ausarbeitung habe ich im Frühjahr eine Betrachtung gebracht unter dem Titel »Wir Philologen«. Kommt eine Zeit, wo wir einmal länger zusammen und uns ineinander leben, so will ich Dir manches mitteilen: alles ist selbst erlebt und deshalb windet es sich etwas schwer von mir los. Ich sage das, weil ich oft nach einem Zusammensein mit Dir mir vorwerfe, daß ich Dir nicht genug mitgeteilt habe. Es ist nicht der Mangel an Offenheit, das weißt Du.

Auf dem Bürgenstock war ich inzwischen, mit Overbeck; die letzten Gäste und einzigen Bewohner! Deiner viel gedenkend. Es ist nicht der Ort für Sehnsüchtige, die Ruhe kann einen toll machen.

Am 15. d. M. wird Fräulein von Meysenbug, auf ihrer Rückreise von Paris, bei mir sein. Vielleicht auch Gersdorff; der mir neulich seine nunmehr gefaßte Absicht, sich in Berlin zu verloben, mitteilte. Wir wollen unsern Segen aus vollem Herzen dazu sprechen.

Mein geliebter Freund, vergiß mich in Deiner Not nicht, vergiß es nicht, daß es im Wasser der Trübsal doch ein paar Balken gibt. Und wenn es kein Balken ist, so doch immer die Freundeshand, an die Du Dich anklammern darfst, es gehe nun, wie es gehe.[1113]

Ich sehe einen blauen ruhigen kalten Herbsttag draußen liegen.

Lebe wohl, liebster Freund und sei meiner Freundschaft sicher.

Ebenfalls grüßt meine Schwester mit den herzlichsten Wünschen.

Der Deinige F. N.


Romundt hat mir die größte Freude durch seine Mitteilungen gemacht. Er ist wie genesen und fühlt sich auch so: dafür hat er sich als Schulmeister (Griechisch in Sekunda I und II, Deutsch in Prima) sehr zu placken. Es war zum Heil.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1112-1114.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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