94.
An Paul Rée

[1114] Basel, den 22. Oktober 1875


Lieber Herr Doktor, ich habe mich viel zu sehr über ihre psychologischen Beobachtungen gefreut, als daß ich es mit Ihrem Toten-Inkognito (»Aus dem Nachlaß«) so ernst nehmen könnte. Beim Durchstöbern einer Menge neuer Bücher fand ich neulich Ihre Schrift und erkannte auf der Stelle einige jener Gedanken als Ihr Eigentum wieder, und ebenso erging es Gersdorff, der aus der früheren Zeit noch neulich mir zitierte »behaglich miteinander schweigen zu können soll ja ein größeres Zeichen von Freundschaft sein als behaglich miteinander reden zu können, wie Rée sagte«. Sie leben also noch in mir und meinen Freunden fort, und nichts hatte ich damals, als ich Ihr von mir so hochgehaltenes Manuskript in den Händen hatte, mehr zu bedauern als gerade durch ein starkes Augenleiden zu absoluter Entsagung im Briefschreiben gezwungen zu sein.

Ich bin ferne davon, mir es herauszunehmen, Sie zu loben, ebensowenig will ich Sie mit irgendwelchen »Hoffnungen« belästigen, die ich etwa auf Sie setze. Nein! wenn Sie nie etwas anderes drucken lassen, wie diese geistbildenden Maximen, wenn diese Schrift wirklich Ihr Nachlaß ist und bleibt, so soll es gut und recht sein: wer so selbständig lebt und für sich dahergeht, hat das Recht sich auszubitten, daß man ihn mit Lob und Hoffnungen verschone. Nur möchte ich Sie für den Fall irgendeiner Publikations-Absicht darauf aufmerksam machen, daß Sie immer mit Sicherheit auf meinen Verleger, Herrn E. Schmeitzner in Schloß-Chemnitz rechnen können. Ich sage dies namentlich deshalb, weil das einzige, worüber ich mich bei Ihrer[1114] Schrift nicht freute, die letzte Seite war, auf der die Schriften des Herrn E. von Hartmann hintereinander herprangen; die Schrift eines Denkers sollte aber auch nicht einmal auf Ihrem Hinterteil an die Schriften eines Scheindenkers erinnern.

Mit recht guten Wünschen für Ihr leibliches Wohl und der Bitte, meinen Dank dafür freundlich aufzunehmen, daß Sie Ihre Maximen überhaupt der Öffentlichkeit übergeben haben – womit Sie zeigen, daß Ihnen das geistige Wohl Ihrer Mitmenschen am Herzen liegt, bin und bleibe ich der Ihrige,

Friedrich Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1114-1115.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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