163.
An Louise Ott

[1190] [Naumburg a. d. S., September 1882]


Verehrungswürdige Freundin, oder darf ich nach sechs Jahren dieses Wort nicht mehr gebrauchen?

Inzwischen habe ich dem Tode näher gelebt als dem Leben und bin folglich ein wenig zu sehr zum »Weisen« und beinahe zum »Heiligen« geworden ...

Indessen: das läßt sich vielleicht noch korrigieren! Denn ich glaube wieder an das Leben, an die Menschen, an Paris, sogar an mich selber – und will in kurzer Zeit Sie wiedersehen. Mein letztes Buch heißt: »Die fröhliche Wissenschaft.«

Gibt es viel heiteren Himmel über Paris? Wissen Sie durch einen Zufall etwa von einem Zimmer, das für mich paßt? Es müßte ein sehr totenstill gelegenes, sehr einfaches Zimmer sein. Und gar nicht zu ferne von Ihnen, meine liebe Frau Ott.

Oder raten Sie mir gar ab, nach Paris zu kommen? Ist es kein Ort für Einsiedler, für Menschen, die still mit einem Lebenswerke herumgehen wollen und sich gar nicht um Politik und Gegenwart bekümmern?

Sie sind mir eine so liebliche Erinnerung!

Von Herzen Ihnen zugetan,

Professor Dr. F. Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1190.
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