164.
An Franz Overbeck

[1190] Adresse: Leipzig, Auenstr. 26, 2te Etage

[September 1882]


Mein lieber Freund, so sitze ich denn einmal wieder in Leipzig, der alten Bücher-Stadt, um einige Bücher kennenzulernen, bevor es wieder[1190] in die Ferne geht. Mit dem deutschen Winterfeldzug wird es wohl nichts werden: ich bedarf in jedem Sinne des hellen Wetters. Ja, Charakter hat er, dieser Wolkenhimmel Deutschlands, ungefähr, wie mich dünkt, wie die Parsifal-Musik Charakter hat – aber einen schlechten. Vor mir liegt der erste Akt des matrimonio segreto – goldene, glitzernde, gute, sehr gute Musik!

Die Tautenburger Wochen haben mir wohlgetan, namentlich die letzten; und im ganzen großen habe ich ein Recht, von Genesung zu reden, wenn ich auch häufig an das labile Gleichgewicht meiner Gesundheit erinnert werde. Aber reinen Himmel über mir! Sonst verliere ich allzu viel Zeit und Kraft!

Wenn Du den Sanctus Januarius gelesen hast, so wirst Du gemerkt haben, daß ich einen Wendekreis überschritten habe. Alles liegt neu vor mir, und es wird nicht lange dauern, daß ich auch das furchtbare Angesicht meiner ferneren Lebensaufgabe zu sehen bekomme. Dieser lange, reiche Sommer war für mich eine Probezeit; ich nahm äußerst mutig und stolz von ihm Abschied, denn ich empfand für diese Zeitspanne wenigstens die sonst so häßliche Kluft zwischen Wollen und Vollbringen als überbrückt. Es gab harte Ansprüche an meine Menschlichkeit, und ich bin mir im Schwersten genug geworden. Diesen ganzen Zwischenzustand zwischen sonst und einstmals nenne ich »in media vita«; und der Dämon der Musik, der mich nach langen Jahren wieder einmal heimsuchte, hat mich gezwungen, auch in Tönen davon zu reden.

Das Nützlichste aber, was ich diesen Sommer getan habe, waren meine Gespräche mit Lou. Unsre Intelligenzen und Geschmäcker sind im Tiefsten verwandt – und es gibt andererseits der Gegensätze so viele, daß wir füreinander die lehrreichsten Beobachtungsobjekte und -subjekte sind. Ich habe noch niemanden kennengelernt, der seinen Erfahrungen eine solche Menge objektiver Einsichten zu entnehmen wüßte, niemanden, der aus allem Gelernten so viel zu ziehn verstünde. Gestern schrieb mir Rée »Lou ist entschieden um einige Zoll gewachsen in Tautenburg« – nun, ich bin es vielleicht auch. Ich möchte wissen, ob eine solche philosophische Offenheit, wie sie zwischen uns besteht, schon einmal bestanden hat. L. ist jetzt ganz in Büchern und Arbeiten versteckt; ihr größter Dienst, den sie mir bisher erwiesen,[1191] ist der, Rée zu einer Reform seines Buches auf Grund eines meiner Hauptgedanken bestimmt zu haben. – Ihre Gesundheit reicht nur für sechs bis sieben Jahre aus, wie ich fürchte.

Tautenburg hat Lou ein Ziel gegeben. – Sie hinterließ mir ein ergreifendes Gedicht »Gebet an das Leben«.

Leider hat sich meine Schwester zu einer Todfeindin L.s entwickelt, sie war voller moralischer Entrüstung von Anfang bis Ende und behauptet nun zu wissen, was an meiner Philosophie ist. Sie hat an meine Mutter geschrieben, »sie habe in Tautenburg meine Philosophie ins Leben treten sehen und sei erschrocken: ich liebe das Böse, sie aber liebe das Gute. Wenn sie eine gute Katholikin wäre, so würde sie ins Kloster gehen und für all das Unheil büßen, was daraus entstehen werde.« Kurz, ich habe die Naumburger »Tugend« gegen mich, es gibt einen wirklichen Bruch zwischen uns – und auch meine Mutter vergaß sich einmal so weit mit einem Worte, daß ich meine Koffer packen ließ und morgens früh nach Leipzig fuhr. Meine Schwester (die nicht nach Naumburg kommen wollte, solange ich dort war und noch in Tautenburg ist) zitiert dazu ironisch: »Also begann Zarathustras Untergang.« – In der Tat, es ist der Beginn vom Anfang. – Dieser Brief ist für Dich und Deine liebe Frau, haltet mich nicht für menschenfeindlich. Ganz von Herzen

Dein F. N.


Das Herzlichste an Frau Rothpletz und die Ihrigen! Ich dankte Dir noch nicht für Deinen herzlichen Brief.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1190-1192.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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