166.
An Franz Overbeck

[1193] [Leipzig, Oktober 1882]


Mein lieber Freund, so geht es! Ich schrieb nicht, um die Entscheidung in mehreren Dingen abzuwarten, und heute schreibe ich, nur um Dir dies zu sagen; denn es ist noch nichts entschieden. Noch nicht einmal in betreff meiner Reise- und Winterpläne. Paris steht immer zwar noch im Vordergrund, aber es ist kein Zweifel, daß mein Befinden unter dem Eindrucke dieses nordischen Himmels sich verschlechtert hat; und vielleicht habe ich nie so melancholische Stunden durchgemacht wie in diesem Leipziger Herbst – obwohl ich doch Gründe genug um mich habe, guter Dinge zu sein. Genug, es gab manchen Tag, wo ich im Geiste über Basel wieder meerwärts reiste. Ich fürchte mich vor dem Lärme von Paris etwas und möchte wissen, ob es genug heiteren Himmel hat. Andererseits würde in einer erneuten Genueser Einsamkeit manche Gefahr liegen. – – Ich gestehe, ich würde überaus gerne Dir und Deiner lieben Frau einen längeren Bericht über die Erfahrungen dieses Jahres gemacht haben: es gibt sehr viel zu erzählen und wenig zu schreiben.

Für das Buch von Jansen bin ich Dir großen Dank schuldig, es präzisiert vorzüglich alles Unterscheidende zwischen seiner und der protestantischen Auffassung (der ganze Handel läuft auf eine Niederlage des deutschen Protestantismus hinaus – jedenfalls der protestantischen »Geschichtsschreibung«). Ich selber habe in der Hauptsache nicht viel umzulernen gehabt. Die Renaissance bleibt mir immer noch die Höhe dieses Jahrtausends; und was seither geschah, ist die große Reaktion aller Art von Herdentrieben gegen den »Individualismus« jener Epoche.

Lou und Rée sind in diesen Tagen abgereist, zunächst um mit Mutter Rée sich in Berlin zu treffen: von da geht es nach Paris. Mit der Gesundheit von Lou steht es bejammernswürdig, ich gebe ihr nun viel kürzere Zeit als noch in diesem Frühjahr. Wir haben unser gut Teil Sorge; Rée ist wie geschaffen für seine Aufgabe in dieser Sache. Für mich persönlich ist L. ein wahrer Glücksfund, sie hat alle meine Erwartungen erfüllt – es ist nicht leicht möglich, daß zwei Menschen sich verwandter sein können als wir es sind.

Was Köselitz (oder vielmehr Herrn »Peter Gast«) betrifft, so ist hier mein zweites Wunder dieses Jahres. Während Lou für den bisher fast[1193] verschwiegenen Teil meiner Philosophie vorbereitet ist wie kein anderer Mensch, ist Köselitz die tönende Rechtfertigung für meine ganze neue Praxis und Wiedergeburt – um einmal ganz egoistisch zu reden. Hier ist ein neuer Mozart – ich habe keine andere Empfindung mehr: Schönheit, Herzlichkeit, Heiterkeit, Fülle, Erfindungs-Überfluß und die Leichtigkeit der kontrapunktischen Meisterschaft – das fand sich noch nie so zusammen, ich mag bereits gar keine andere Musik mehr hören. Wie arm, künstlich und schauspielerisch klingt mir jetzt die ganze Wagnerei! – Ob »Scherz, List und Rache« hier aufgeführt wird? Ich glaube es, aber weiß es noch nicht. –

Dies Bild, welches ich beilege, mag auf Deinem Geburtstagstisch zu finden sein (es wird als Photographie bewundert).

Hat Frau Rothpletz mein letztes Buch empfangen? Ich vergaß ihre genaue Adresse.

Von Herzen Dir ein gutes Jahr wünschend

Dein Freund Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1193-1194.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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