171.
An Franz Overbeck

[1198] [Poststempel Rapallo, 25. Dezember 1882]


Lieber Freund, vielleicht hast Du meinen letzten Brief gar nicht bekommen? – Dieser letzte Bissen Leben war der härteste, den ich bisher kaute und es ist immer noch möglich, daß ich daran ersticke. Ich habe an den beschimpfenden und qualvollen Erinnerungen dieses Sommers gelitten wie an einem Wahnsinn – meine Andeutungen in Basel und in meinem letzten Briefe verschwiegen immer das Wesentlichste. Es ist ein Zwiespalt entgegengesetzter Affekte darin, dem ich nicht gewachsen bin. Das heißt: ich spanne alle Fasern meiner Selbstüberwindung an – aber ich habe zu lange in der Einsamkeit gelebt und an meinem »eigenen Fette« gezehrt, daß ich nun auch mehr als ein anderer von dem Rade der eignen Affekte gerädert werde. Könnte ich nur schlafen! – aber die stärksten Dosen meiner Schlafmittel helfen mir ebensowenig als meine sechs bis acht Stunden Marschieren.

Wenn ich nicht das Alchemisten-Kunststück erfinde, auch aus diesem – Kote Gold zu machen, so bin ich verloren. – Ich habe da die allerschönste Gelegen heit zu beweisen, daß mir »alle Erlebnisse nützlich, alle Tage heilig und alle Menschen göttlich« sind!!!!

Alle Menschen göttlich. –

Mein Mißtrauen ist jetzt sehr groß: ich fühle aus allem, was ich höre, Verachtung gegen mich heraus. – Z. B. noch zuletzt aus einem Briefe von Rohde. Ich will doch darauf schwören, daß er, ohne den Zufall[1198] früherer freundschaftlicher Beziehungen, jetzt in der schnödesten Weise über mich und meine Ziele aburteilen würde.

Gestern habe ich nun auch mit meiner Mutter den brieflichen Verkehr abgebrochen: es war nicht mehr zum Aushalten, und es wäre besser gewesen, ich hätte es längst nicht mehr ausgehalten. Wie weit inzwischen die feindseligen Urteile meiner Angehörigen um sich gegriffen haben und mir den Ruf verderben – – nun, ich möchte es immer noch lieber wissen als an dieser Ungewißheit leiden. –

Mein Verhältnis zu Lou liegt in den letzten schmerzhaftesten Zügen:

so glaube ich heute wenigstens. Später, – wenn es ein Später gibt, will ich auch darüber ein Wort sagen. Mitleid, mein lieber Freund, ist eine Art Hölle – was auch die Anhänger Schopenhauers sagen mögen.

Ich frage Dich nicht: »was soll ich machen?« Einige Male dachte ich daran, mir in Basel ein Stübchen zu mieten, Euch hier und da zu besuchen und Vorlesungen zu hören. Einige Male dachte ich auch ans Gegenteil: meine Einsamkeit und Entsagung auf ihren letzten Punkt zu treiben und –

Nun, das laufe nun seinen Weg! Lieber Freund, Du mit Deiner verehrungswürdigen und klugen Frau – Ihr seid mir beinahe noch der letzte Fußbreit sicheren Grundes. Seltsam!

Möge es Euch gut gehen!

Dein F. N.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1198-1199.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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