170.
An Hans von Bülow

[1197] [Santa Margherita bei Genua, Dezember 1882]


Hochverehrter Herr, durch irgendeinen guten Zufall erfahre ich, daß Sie mir – trotz meiner entfremdenden Einsamkeit, zu der ich seit 1876 genötigt bin – nicht fremd geworden sind: ich empfinde eine Freude dabei, die ich schwer beschreiben kann. Es kommt zu mir wie ein Geschenk und wiederum wie etwas, auf das ich gewartet, an das ich geglaubt habe. Es schien mir immer, sobald Ihr Name mir einfiel, daß es mir wohler und zuversichtlicher ums Herz wurde; und wenn ich zufällig etwas von Ihnen hörte, meinte ich gleich, es zu verstehen und gutheißen zu müssen. Ich glaube, ich habe wenige Menschen so gleichmäßig in meinem Leben gelobt wie Sie – Verzeihung! Was habe ich für ein Recht, Sie zu »loben«! – –

Inzwischen lebte ich jahrelang dem Tode etwas zu nahe und, was schlimmer ist, dem Schmerze. Meine Natur ist gemacht, sich lange quälen zu lassen und wie mit langsamem Feuer verbrannt zu werden; ich verstehe mich nicht einmal auf die Klugheit, »den Verstand dabei zu verlieren«. Ich sage nichts von der Gefährlichkeit meiner Affekte, aber das muß ich sagen: die veränderte Art zu denken und zu empfinden, welche ich seit sechs Jahren auch schriftlich zum Ausdruck brachte, hat mich im Dasein erhalten und mich beinahe gesund gemacht. Was geht es mich an, wenn meine Freunde behaupten, diese meine jetzige »Freigeisterei« sei ein exzentrischer, mit den Zähnen festgehaltener Entschluß und meiner eigenen Neigung abgerungen und angezwungen? Gut, es mag eine »zweite Natur« sein: aber ich will schon noch beweisen, daß ich mit dieser zweiten Natur erst in den eigentlichen Besitz meiner ersten Natur getreten bin. –

So denke ich von mir: im übrigen denkt fast alle Welt recht schlecht[1197] von mir. Meine Reise nach Deutschland in diesem Sommer – eine Unterbrechung der tiefsten Einsamkeit – hat mich belehrt und erschreckt. Ich fand die ganze liebe deutsche Bestie gegen mich anspringend – ich bin ihr nämlich durchaus nicht mehr »moralisch genug«.

Genug, ich bin wieder Einsiedler und mehr als je; und denke mir – folglich – etwas Neues aus. Es scheint mir, daß allein der Zustand der Schwangerschaft uns immer wieder ans Leben anbindet. –

Also: ich bin, der ich war, jemand, der Sie von Herzen verehrt,

Ihr ergebener Dr. Friedrich Nietzsche

(Santa Margherita Ligure; poste restante)

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1197-1198.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in 8 Bänden