199.
An Peter Gast

[1234] Sils-Maria, 23. Juli 1885


Lieber Freund, darauf hätte ich wetten mögen, daß Sie auf Ihren »Notschrei«-Brief in dieser Weise selber antworten würden, wie es heute durch Ihre Karte geschieht – zu meiner großen Freude, wie ich gerne eingestehe. Aus meinem eignen Briefschreibe-Leben kenne ich das Phänomen nur zu gut, welches ich »Selbstbeantwortung« nenne; ebenso, daß man eine Dummheit und noch dazu eine Unzartheit begeht, wenn man, als Adressat eines Briefes, durch eine geschwinde Beileids-Bezeugung sich zwischen diese natürliche »Auslösung« (Herstellung der persönlichen Souveränität) drängt. Ecco! Geredet wie ein Pedant! – aber gefühlt wie ein Freund, glauben Sie's mir! –

Ich notierte mir gestern, zur eignen Bestärkung auf dem einmal eingeschlagnen Wege des Lebens, eine Menge Züge, an denen ich die »Vornehmheit« oder den »Adel« bei Menschen herauswittere – und was, umgekehrt, alles zum »Pöbel« in uns gehört. (In allen meinen[1234] Krankheits-Zuständen fühle ich, mit Schrecken, eine Art Herabziehung zu pöbelhaften Schwächen, pöbelhaften Milden, sogar pöbelhaften Tugenden – verstehen Sie das? O Sie Gesunder!) Vornehm ist z. B. der festgehaltene frivole Anschein, mit dem eine stoische Härte und Selbstbezwingung maskiert wird. Vornehm ist das Langsam-Gehen, in allen Stücken, auch das langsame Auge. Wir bewundern schwer. Es gibt nicht zu viel wertvolle Dinge; und diese kommen von selber und wollen zu uns. Vornehm ist das Ausweichen vor kleinen Ehren, und Mißtrauen gegen den, welcher leicht lobt. Vornehm ist der Zweifel an der Mitteilbarkeit des Herzens; die Einsamkeit nicht als gewählt, sondern als gegeben. Die Überzeugung, daß man nur gegen seinesgleichen Pflichten hat und gegen die andern nach Gutdünken verfährt; daß man sich immer als einen fühlt, der Ehren zu vergeben hat, und selten jemandem zugesteht, daß er Ehren gerade für uns auszuteilen habe; daß man fast immer verkleidet lebt, gleichsam incognito reist, – um viel Scham zu ersparen; daß man zum otium fähig sei, und nicht nur fleißig wie Hühner: – gackern, eierlegen und wieder gackern und so fort. Und so fort! alter Freund, ich ermüde Ihre Geduld, aber Sie erraten gewiß, was mir an Ihrem Leben gefällt und Freude macht, und was ich immer fester unterstrichen wünschte.

Der Gedanke, welchen Sie in betreff des Herrn Widemann äußern, ist mir sehr willkommen: übersenden Sie ein Exemplar1 so, daß daraus auch meine warme Teilnahme für ihn ersichtlich ist – als eine Art Glückwunsch zur Vollendung seines Werkes. Ich kenne dasselbe nicht: was Sie mir andeuten über »Gleichgewichtslagen« und »Unzerstörbarkeit der Kraft« gehört auch zu meinen Glaubensartikeln. Doch haben wir Dühring gegen uns: zufällig finde ich eben diesen schönen Satz »Der Ursprungszustand des Universums oder, deutlicher bezeichnet, eines veränderungslosen, keine zeitliche Häufung von Verschiedenheiten einschließenden Seins der Materie, ist eine Frage, die nur derjenige Verstand abweisen kann, der in der Selbstverstümmelung seiner Zeugungskraft den Gipfel der Weisheit sieht.« Dieser Berliner »Maschinist« hält uns also, mein werter Freund, für [1235] castrati: zum mindesten hoffe ich, wir haben eine Art Schadenersatz für den angedeuteten Mangel darin, daß wir – »schöner singen« als Herr Dühring. Ich kenne kaum eine widerlichere Tonmanier als die seine. – Daß ich den »endlichen« d. h. bestimmt gestalteten Raum für unabweislich im Sinne einer mechanistischen Weltausdeutung halte und daß die Unmöglichkeit einer Gleichgewichtslage mir mit der Frage, wie gestaltet der Gesamt-Raum ist – gewiß nicht kugelförmig! – zusammenzuhängen scheint, das habe ich Ihnen schon mündlich erzählt.

Meine Gesundheit beunruhigend unsicher; irgend eine kardinale Gefahr. Frau Röder ist seit einem halben Monat fort, bene merita! Sie hat mir über einen bösen Monat weggeholfen, mit der allerbesten Gesinnung.

Heiß, unsinnig heiß auch hier.

Ihr Freund N.


1

Ich hatte geglaubt, mein vierter Zarathustra widerstände Ihnen? In der Tat, er ist schlecht zugänglich mit seinen entlegenen Zuständen und »Weltgeschehen«: welche aber doch existieren und nicht nur arbiträr sind. Für Sie gesagt, als meinen »Einzigen«.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1236.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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