212.
An Reinhart von Seydlitz

[1251] Nizza, Donnerstag, den 24. Februar 1887

rue des Ponchettes 29 au premier


Glücklicherweise, lieber Freund, bewies in Deinem eignen Falle Dein Brief ganz und gar nicht quod erat demonstrandum: sonst aber gebe ich Dir alles zu, die verhängnisvollen Einwirkungen des bedeckten Himmels, der langen feuchten Kälte, der Nähe von Bajovaren und von bayrischem Bier – ich bewundre jeden Künstler, der diesen Feinden die Stirn bietet, gar nicht zu reden von der deutschen Politik, welche nur eine andre Art permanenten Winters und schlechten Wetters ist. Mir scheint Deutschland in den letzten 15 Jahren eine förmliche Schule der Verdummung geworden zu sein. Wasser, Quark und Mist weit und breit [– –]: so sieht sich das aus der Ferne an. Ich bitte tausend Male um Entschuldigung, wenn ich damit Deine edleren Gefühle verletze, aber vor diesem gegenwärtigen Deutschland, so sehr es auch igelmäßig in Waffen starrt, habe ich keinen Respekt mehr. Es repräsentiert die stupideste, verkommenste, verlogenste Form des »deutschen Geistes«, die es bisher gegeben hat, – und was hat dieser »Geist« sich[1251] schon alles an Geistlosigkeit zugemutet! Ich vergebe es niemandem, der mit ihm seinen Kompromiß macht, heiße er selbst Richard Wagner, und namentlich nicht, wenn es so schändlich zweideutig und vorsichtig gemacht wird, wie dies der kluge, allzukluge Verherrlicher der »reinen Torheit« in seinen letzten Jahren bewerkstelligt hat – –

Hier, in unserm Sonnenlande – was für andre Dinge haben wir im Kopfe! Eben noch hatte Nizza seinen langen, internationalen Karneval (mit Spanierinnen im Übergewichte, beiläufig gesagt) und dicht hinter ihm, sechs Stunden nach seiner letzten Girandola, gab es schon wieder neue und seltner erprobte Reize des Daseins. Wir leben nämlich in der interessanten Erwartung, zugrunde zu gehn – dank einem wohlgemeinten Erdbeben, das nicht nur alle Hunde weit und breit heulen macht. Welches Vergnügen, wenn die alten Häuser über einem wie Kaffeemühlen rasseln! wenn das Tintefaß selbständig wird! wenn die Straßen sich mit entsetzten halbbekleideten Figuren und zerrütteten Nervensystemen füllen! Diese Nacht machte ich, gegen 2-3 Uhr, comme gaillard, der ich bin, eine Inspektionsrunde in den verschiednen Teilen der Stadt, um zu sehn, wo die Furcht am größten ist. – Die Bevölkerung kampiert nämlich tags und nachts im Freien, es sah hübsch militärisch aus. Und nun gar in den Hotels! wo vieles eingestürzt ist und folglich eine vollkommne Panik herrscht. Ich fand alle meine Freunde und Freundinnen erbärmlich unter grünen Bäumen ausgestreckt, sehr flanelliert, denn es war scharf kalt, und bei jeder kleinen Erschütterung düster an das Ende denkend. Ich zweifle nicht, dies macht der Saison ein plötzliches Ende, alles denkt ans Abreisen (gesetzt, daß man fortkommt und daß die Eisenbahnen nicht zu allererst »abgerissen« sind). Schon gestern abend waren die Gäste des Hotels, wo ich esse, nicht dazu zu bringen, ihre table d'hôte im Innern des Hauses einzunehmen – man aß und trank im Freien; und abgesehn von einer alten sehr frommen Frau, welche überzeugt ist, daß der liebe Gott ihr nichts zuleide tun darf, war ich der einzige heitere Mensch unter lauter Larven und »fühlenden Brüsten«.

– Eben erwische ich ein Zeitungsblatt, das diese letzte Nacht bei weitem malerischer, als Dein Freund vermag, Dir zu Gemüte führen wird. Ich lege es bei: lies es, bitte, Deiner lieben Frau vor und behalte mich in gutem Angedenken!

Treulich Dein Nietzsche
[1252]

(Verzeih die Eile und Flüchtigkeit meiner Schrift, aber der Brief soll mit dem nächsten Zuge fort.)

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1251-1253.
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Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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