213.
An Peter Gast

[1253] Montag [Nizza, 7. März 1887]


Lieber Freund, soeben empfing ich, dankbar Ihrer Hilfe eingedenk, die Korrektur der »Lieder« – das ist die letzte Korrektur, es freut mich dies Ihnen melden zu können. Mit dem »fünften Buche«, dessen Manuskript seit mehreren Monaten in Fritzschens Händen ist und dessen Drucklegung ich selber zu bezahlen gewillt war, scheint besagter Leipziger wenig einverstanden. Genug, wir lassen es vor der Hand ungedruckt; vielleicht gehört es seinem Tone und Inhalte nach überdies mehr zu »Jenseits von G. u. B.« und dürfte diesem Werke bei einer zweiten Auflage einverleibt werden –, mit mehr Recht, wie mir jetzt scheint als jener Fröhlichen Wissenschaft: so daß zuletzt hinter dem Widerstreben des Verlegers ein »höherer Sinn«, ein Stück blauen Himmels von Vernünftigkeit sichtbar wird. Und welcher Verleger dürfte nicht etwas furchtsam sein, nachdem er sich ungeschickterweise mit meiner Literatur beschwert hat? Ich habe es noch nicht einmal zu Widersachern gebracht; seit 15 Jahren ist überhaupt über keines mei ner Bücher eine tiefgemeinte, gründliche, sach- und fachgemäße Rezension erschienen – kurz, man muß dem Fritzsch einiges zugute halten. –

In welcher Lage wäre ich, gesetzt, daß die zehn Jahre Philologie und Basel in meinem Leben fehlten! –

Eben ist ein Philologe mit verwandter Vorgeschichte hier bei mir zum Besuche, ein Dr. A., aus der Schule Rohdes und v. Gutschmidts erwachsen und von seinen Lehrern sehr gewürdigt, aber – leidenschaftlich degoutiert und gegen alle Philologie eingenommen. Er flüchtet zu mir, »seinem Meister« – denn er will sich schlechterdings der Philosophie weihen; und nun überrede ich ihn langsam, langsam, keine Dummheiten zu machen und sich durch keine falschen Vorbilder fortreißen zu lassen. Ich glaube, es gelingt mir, ihn zu »enttäuschen«. – Dabei erfuhr ich, wie selbst im Tübinger Stift meine Schriften heimlich und gierig verschluckt werden; ich gelte dort als einer der »negativsten Geister«. – Dr. A. ist halb Amerikaner, halb Schwabe. –[1253] Mit Dostojewskij ist es mir gegangen wie früher mit Stendhal: die zufälligste Berührung, ein Buch, das man in einem Buchladen aufschlägt, Unbekanntschaft bis auf den Namen – und der plötzlich redende Instinkt, hier einem Verwandten begegnet zu sein.

Bis jetzt weiß ich noch wenig über seine Stellung, seinen Ruf, seine Geschichte: er ist 1881 gestorben. In seiner Jugend war er schlimm daran: Krankheit, Armut, bei vornehmer Abkunft; mit 27 Jahren zum Tode verurteilt, auf dem Schaffott noch begnadigt, dann 4 Jahre Sibirien, in Ketten, inmitten schwerer Verbrecher. Diese Zeit war entscheidend: er entdeckte die Kraft seiner psychologischen Intuition, mehr noch, sein Herz versüßte und vertiefte sich dabei – sein Erinnerungs-Buch an diese Zeit »La maison des morts« ist eines der »menschlichsten Bücher«, die es gibt. Was ich zuerst kennenlernte, eben in französischer Übersetzung erschienen, heißt L'esprit souterrain, zwei Novellen enthaltend: die erste eine Art unbekannter Musik, die zweite ein wahrer Geniestreich der Psychologie – ein schreckliches und grausames Stück Verhöhnung des Gnôthi sauton, aber mit einer leichten Kühnheit und Wonne der überlegnen Kraft hingeworfen, daß ich vor Vergnügen dabei ganz berauscht war. Inzwischen habe ich noch, auf Overbecks Empfehlung hin, den ich in meinem letzten Briefe befragte, Humiliés et offensés gelesen (das einzige, was O. kannte), mit dem größten Respekt vor dem Künstler Dostojewskij. Auch merke ich bereits, wie die jüngste Generation von Pariser Romandichtern von dem Einflusse und der Eifersucht auf D. vollständig tyrannisiert wird (z. B. Paul Bourget).

– Ich bleibe hier bis zum 3. April, hoffentlich ohne noch weitere Bekanntschaft mit dem Erdbeben zu machen: jener Dr. Falb nämlich warnt vor dem 9. März, wo er eine Rekrudeszenz der Erscheinungen für unsre Gegend erwartet, insgleichen vor dem 22. und 23. März. Bisher bin ich kaltblütig genug dabei geblieben und habe mitten unter tollgewordnen Tausenden mit dem Gefühl der Ironie und der kalten Neugierde gelebt. Aber man kann nicht für sich gutsagen: vielleicht bin ich in wenig Tagen unvernünftiger als irgend jemand. Das Plötzliche, das imprévu hat seine Reize ...

Wie geht es Ihnen? Nein, wie mich Ihr letzter Brief erquickt hat! Sie sind so tapfer!

Treulich Ihr Freund N.[1254]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1253-1255.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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