214.
An Malwida von Meysenbug

[1255] [12. Mai 1887]

Adresse: Chur (Schweiz), Rosenhügel – bis zum

10. Juni – nachher: Celerina, Oberengadin


Hochverehrte Freundin. Seltsam! Was Sie zuletzt mir mit solcher Güte ausdrückten, ob es nicht für uns beide jetzt fruchtbar und erquicklich sein müßte, unsre zwei Einsamkeiten wieder einmal in die allernächste herzlichste Nachbarschaft zu rücken, das habe ich selbst oft genug in der letzten Zeit gedacht und gefragt. Noch einen Winter mit Ihnen zusammen, vielleicht gar von Trina gemeinsam gepflegt und gewartet – das ist in der Tat eine äußerst verlockende Aussicht und Perspektive, für die ich Ihnen nicht genug Dank sagen kann! Am liebsten schon noch einmal in Sorrent (dis kai tris to kalon sagen die Griechen: »alles Gute zweimal, dreimal!«). Oder in Capri – wo ich Ihnen wieder Musik machen will, und bessere als damals! Oder in Amalfi, oder Castellamare. Zuletzt selbst in Rom (obschon mein Mißtrauen gegen römisches Klima und gegen die großen Städte überhaupt auf guten Gründen steht und nicht leicht umzuwerfen ist). Die Einsamkeit mit der einsamsten Natur war bisher mein Labsal, mein Mittel der Genesung: solche Städte des modernen Treibens wie Nizza, wie sogar schon Zürich (von wo ich eben komme) machen mich auf die Dauer reizbar, traurig, ungewiß, verzagt, unproduktiv, krank. Von jenem stillen Aufenthalte da unten habe ich eine Art Sehnsucht und Aberglauben zurückbehalten, wie als ob ich dort, wenn auch nur ein paar Augenblicke, tiefer aufgeatmet hätte, als irgendwo sonst im Leben. Zum Beispiel bei jener allerersten Fahrt in Neapel, die wir zusammen nach dem Posilipp zu machten. –

Am Ende, alles erwogen, sind Sie allein mir zu einem solchen Wunsche übrig geblieben: im übrigen fühle ich mich zu meiner Einsamkeit und Burg verurteilt. Da gibt es keine Wahl mehr. Das, was mich noch leben heißt, eine ungewöhnliche und schwere Aufgabe, heißt mich auch den Menschen aus dem Wege zu gehn und mich an niemanden mehr anzubinden. Es mag die extreme Lauterkeit sein, in die mich eben jene Aufgabe gestellt hat, daß ich nachgerade »die Menschen« nicht mehr riechen kann, am wenigsten die »jungen Leute«, von denen ich gar nicht selten heimgesucht werde (– oh, sie sind zudringlich-täppisch,[1255] ganz wie junge Hunde!). Damals, in der Sorrentiner Einsamkeit, waren mir Brenner und Rée zu viel: ich bilde mir ein, daß ich damals gegen Sie sehr schweigsam gewesen bin, selbst über Dinge, über die ich zu niemandem geredet hätte, als zu Ihnen.

Auf meinem Tische liegt die neue Auflage (die zweibändige) von Menschliches, Allzumenschliches, deren erster Teil damals ausgearbeitet wurde – seltsam! seltsam! gerade in Ihrer verehrungswürdigen Nähe! In den langen »Vorreden«, welche ich für die Neuherausgabe meiner sämtlichen Schriften nötig befunden habe, stehen kuriose Dinge von einer rücksichtslosen Aufrichtigkeit in bezug auf mich selbst. Damit halte ich mir »die vielen« ein für allemal vom Leibe: denn nichts agaziert die Menschen so sehr, als etwas von der Strenge und Härte merken zu lassen, mit der man sich selbst, unter der Zucht seines eigensten Ideals, behandelt und behandelt hat. Dafür habe ich meine Angel nach »den wenigen«, ausgeworfen, zuletzt auch dies ohne Ungeduld: denn es liegt in der unbeschreiblichen Fremdheit und Gefährlichkeit meiner Gedanken, daß erst sehr spät – und gewiß nicht vor 1901 – die Ohren sich für diese Gedanken aufschließen werden.

Nach Versailles zu kommen – ach wäre es nur irgendwie mir möglich! Denn ich verehre den Kreis Menschen, den Sie dort vorfinden (sonderbares Bekenntnis für einen Deutschen; aber ich fühle mich im heutigen Europa nur den geistigen Franzosen und Russen verwandt, und ganz und gar nicht meinen gebildeten Landsleuten, die alle Dinge nach dem Prinzip »Deutschland, Deutschland über alles« beurteilen). Aber ich muß wieder in die kalte Luft des Engadins: der Frühling setzt mir unglaublich zu: ich mag gar nicht eingestehen, bis in welche Abgründe von Mutlosigkeit ich mich unter seinem Einflusse verirre. Mein Leib fühlt sich (wie übrigens auch meine Philosophie) auf die Kälte als sein konservierendes Element angewiesen – das klingt paradox und ungemütlich, ist aber die bewiesenste Tatsache meines Lebens.

– Damit verrät sich zuletzt keineswegs eine »kalte Natur«: das verstehen Sie gewiß, meine hochverehrte und treue Freundin! ...

In alter Liebe und Dankbarkeit

Ihr Nietzsche


Frl. Salomé hat mir gleichfalls die Verlobung mitgeteilt; aber auch ich habe ihr nicht geantwortet, so aufrichtig ich ihr Glück und Gedeihen[1256] wünsche. Dieser Art Mensch, der die Ehrfurcht fehlt, muß man aus dem Wege gehn.

In Zürich habe ich das vortreffliche Fräulein von Schirnhofer aufgesucht, eben von Paris zurückkehrend, über ihre Zukunft, Absicht, Aussicht ungewiß, aber, gleich mir, für Dostojewskij schwärmend.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1255-1257.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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