215.
An Peter Gast

[1257] Sils-Maria, 27. Juni 1887


Lieber Freund, eine schöne Überraschung sondergleichen! Etwas, das ich Ihnen niemals vergessen will! Eine umanità und delicatezza, jemandem erwiesen, der neuerdings vielleicht ein wenig zuviel vom Gegenteil heimgesucht worden ist! Haben Sie Dank: ich gehe den einzelnen Stimmen nach und entdecke überall Feinheiten und Einfälle, mit denen Sie mich beschenkt haben! Was für eine schöne Kunst, wo man so viele nuances in einem Minimum von Zeit bemerkbar machen kann! –

Aber nein, Ihre »Lust zu Bülow« muß wieder kommen, lieber Freund, Sie müssen den Würfel noch einmal werfen, – es ist etwas an dieser Kombination Bülow-Pollini, das dazu drängt, das Schicksal herauszufordern. Mir scheint dieser Zufall ein Wink: ich habe ziemliches Vertrauen zu dem Wagnis, zu dem ich Sie ganz von Herzen überreden möchte. Bülows Charakter erlaubt mancherlei, was den Herren Mottl und Levi nicht »freisteht« (obschon Hegar mir noch zuletzt sagte, er begriffe Levi nicht, warum er Ihr Werk nicht aufführe, »was könne es ihm machen?« ...).

Ich selbst möchte in bezug auf Bülow jetzt nicht »dazwischentreten«: auch aus delicatezza. Bülow wird über Ihr Werk unbefangener, »unvorsichtiger«, bülowscher urteilen, wenn er nicht zugleich meinen Namen hört.

– Ich kann das Ereignis nicht verschweigen, mit dem ich schlecht fertig werde: oder vielmehr, ich bin innewendig immer noch ganz außer mir. Heinrich von Stein ist tot: ganz plötzlich, Herzschlag. Ich habe ihn wirklich geliebt; es schien mir, daß er mir aufgespart sei für ein späteres Alter. Er gehörte zu den ganz wenigen Menschen, an dessen Dasein ich Freude hatte: auch hatte er großes Vertrauen zu mir.[1257] Er sagte noch zuletzt, in meiner Gegenwart kämen ihm Gedanken, zu denen er sonst nicht den Mut fände; ich »befreite« ihn. Und was haben wir hier oben zusammen gelacht! Er stand im Rufe, nicht zu lachen. Sein zweitägiger Besuch hier in Sils ohne Nebenabsichten von Natur und Schweiz, sondern direkt von Bayreuth hierher kommend und direkt von mir zu seinem Vater nach Halle zurückreisend – ist eine der seltsamsten und feinsten Auszeichnungen, die ich erfahren habe. Es machte hier Eindruck; er sagte im Hotel: »Ich komme nicht wegen des Engadin«. – Sein letztes Werk, eine Geschichte der Anfänge der Ästhetik (Boileau und so weiter bis Baumgartner, Kant: sehr gelehrt) ist mir gerühmt worden. – Es war bei weitem die schönste Species Mensch unter den Wagnerianern: wenigstens soweit ich sie kennengelernt habe. – Diese Sache tut mir so weh, daß ich immer wieder nicht daran glaube. Nein, was ich mich einsam fühle! Zuletzt stirbt mir auch die gute Malwida weg – wie viele bleiben dann übrig?? Ich fürchte mich, zu zählen.

Bleiben Sie mit gut und treu, mein lieber Freund Gast!

Dankbar der Ihrige

F. N.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1257-1258.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in 8 Bänden