219.
An Meta van Salis

[1263] Sils-Maria, Mittwoch

[Poststempel: Silvaplana 14. 9. 1887]


Verehrtes Fräulein, es scheint mir, daß Sie mit Marschlins den besseren Teil gewählt haben; denn Sils ist nichts mehr wert, seitdem Sie fort sind. Der September hat einen heimtückischen Charakter: kalt,[1263] schneeig, regnerisch, verdrossen – ich selbst bin jeden Augenblick krank. Stünde es anders, so hätten Sie längst Nachricht von mir, auch ein Wort herzlichsten Dankes: denn Sie haben mir wacker dabei geholfen, über einen schweren und im Grunde von konträren Winden heimgesuchten Arbeits-Sommer – »hinwegzugondeln«. –

– Daß Sie meine Bücher lesen, macht mir jetzt weniger Besorgnis: der kürzeste persönliche Verkehr wirkt als Korrektur auf ein bloß buchmäßiges Kennenlernen fremder Meinungen und Werte; – man sieht, hört und schließt hintendrein ruhiger (alles Gedruckte ist an sich noch zweideutig und macht Unruhe). – Eben ist ein erbärmlicher Aufsatz angelangt, von einem Spiritisten und Wagnerianer abgefaßt, des Titels »Variationen über Themen von Friedrich Nietzsche«. Insgleichen kam eine Einladung des Dresdener Avenarius, meinen Namen mit zur Begründung eines neuen Kunstblattes herzugeben: natürlich nein gesagt. – Malwida schweigt. – Den 20. September will ich nach Venedig abreisen; der Herbst scheint kalt zu werden: das ist in Hinsieht auf die Lagunenstadt für mich eine Hoffnung. – Neulich, an einem gründlichen Regentage, entwickelte sich ein artiges, sehr prinzipielles Gespräch, bei dem die Rollen hübsch verteilt waren: der preußische Landrat, der Mediziner aus Gießen, der Jurist aus Heidelberg (Geheimrat Gierke) und ich (comme philosophe). –

Mein Druck ist beim letzten Drittel angelangt; das Buch wird heißen »Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift«. Damit ist nunmehr alles Wesentliche angedeutet, was zur vorläufigen Orientierung über mich dienen kann: von der Vorrede zur Geburt der Tragödie bis zur Vorrede des letztgenannten Buchs – das gibt eine Art »Entwicklungsgeschichte«. Nichts ist übrigens degoutanter, als sich selbst kommentieren zu müssen; aber bei der vollkommenen Aussichtslosigkeit dafür, daß irgend jemand anders mir das Geschäft hätte abnehmen können, habe ich die Zähne zusammengebissen und gute Miene, hoffentlich auch »gutes Spiel« gemacht. Die Arbeit eines ganzen Jahrs! (eingerechnet das fünfte Buch der gaya scienza, das ich besonders empfehle). – Mein verehrtes Fräulein, behalten Sie diesen Sommer in guter Erinnerung – ich will es auch tun.

Mich Ihrer ausgezeichneten Freundin angelegentlich empfehlend bleibe ich Ihr ergebenster Diener

Dr. Friedrich Nietzsche
[1264]

N. B. Aber man soll nicht sagen: »Marschlins bei Igis«, sondern »Igis bei Marschlins« – oder vielmehr, man soll gar nicht »Igis« sagen ... Ich vergaß, mich Ihrer verehrten Frau Mutter zu empfehlen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1263-1265.
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Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in 8 Bänden