234.
An Peter Gast

[1289] Turin, Freitag [20. April 1888]

Briefe wie bisher ferma in posta


Lieber Freund, wie merkwürdig ist das alles! Daß nun doch noch der Stern über Berlin aufgehn soll! Daß es wieder einen kleinen Flügelschlag der Hoffnung gibt. – Eigentlich gehört die Diversion Ihrer letzten Zeit, von der Sie melden, zu den unwahrscheinlichsten und unvorhergesehensten Dingen, die auf dieser Erde möglich sind. Man glaubt wieder ans Wunder: ein großer Fortschritt in der Kunst, zu leben! ... Daß da etwas Heiteres und Buntes Ihnen über den Weg geflogen ist, das macht mich ganz glücklich, lieber Freund: denn genau das hätte Ihnen geschaffen werden sollen, – aber was sind wir andern alle für düstere Esel und Nachteulen! ... Da war einmal die Krausesche Philosophie am Platz – und nicht die Nietzschesche! ...

Was letztere angeht, so muß es wirklich so etwas geben, sofern man einer dänischen Zeitung trauen darf, die neuerdings bei mir anlangte. Sie meldet, daß an der Universität in Kopenhagen ein Zyklus öffentlicher Vorlesungen »om den tüske Filosof Friedrich Nietzsche« abgehalten wird. Von wem? Sie erraten es! ... Was man diesen Herrn Juden noch alles verdanken wird! – Denken Sie einmal an meine Leipziger Freunde an der Universität: und wieviel Meilen weit sie von dem Gedanken entfernt sind, über mich zu lesen! –

Turin, lieber Freund, ist eine kapitale Entdeckung. Ich sage einiges darüber, mit dem Hintergedanken, daß unter Umständen auch Sie davon Nutzen ziehn könnten. Ich bin guter Laune, in Arbeit von früh bis abend – ein kleines Pamphlet über Musik beschäftigt meine Finger –, verdaue wie ein Halbgott, schlafe, trotzdem die Karrossen nachts vorüberrasseln: alles Zeichen einer eminenten Adaptation von Nietzsche an Torino. Das tut die Luft: – trocken, anregend, lustig; es gab Tage mit dem allerschönsten Engadin-Charakter der Luft. Wenn ich an meine Frühlinge anderswo denke, z. B. in Ihrer unvergleichlichen[1289] Zauber-Muschel: wie groß ist der Gegensatz: der erste Ort, in dem ich möglich bin! ... Und dabei alles entgegenkommend, die Menschen sympathisch und guten Muts. Man lebt billig: 25 frs. mit Bedienung ein Zimmer im historischen Zentrum der Stadt, vis-à-vis dem grandiosen Palazzo Carignano von 1680: fünf Schritt von den großen Portici und der Piazza Castello, von der Post, vom Teatro Carignano! – In letzterem, seitdem ich hier angelangt bin, Carmen: natürlich! ... Successo piramidale, tutto Torino carmenizzato! Der gleiche Kapellmeister wie in Nizza. Außerdem »Lalla Rookh« von Félicien David. Ein junger Komponist führt eine Operette auf, zu der er selbst den Text gedichtet hat, Herr Miller junior. Im Adreßbuch sind 21 Komponisten verzeichnet, 12 Theater, eine Accademia filarmonica, ein Lyzeum für Musik und eine Unzahl von Lehrern aller Instrumente. Moral: beinahe ein Musik-Ort! – Die weiträumigen hohen Portici sind ein Stolz: ihre Ausdehnung beträgt 10020 Meter, d. h. zwei gute Stunden zum Marschieren. Dreisprachige große Buchhandlungen. Dergleichen habe ich noch nirgends getroffen. Die Firma Löscher sehr aufmerksam für mich. Ihr jetziger Chef, Herr Clausen, unterrichtet mich in vielen Dingen (– ich erwäge im stillen die Möglichkeit eines Winters hierselbst). Eine treffliche Trattoria, wo man den deutschen Professor aufs artigste behandelt: ich zahle für jede Mahlzeit incl. Trinkgeld I frs. 25 cs. (Minestra oder Risotto, ein gutes Stück Braten, Gemüse und Brot – alles schmackhaft!) Das Wasser herrlich; der Kaffee in den ersten Cafés 20 cs. das Kännchen; das Eis, höchste Kultur, 30 cs. Dies alles gibt Ihnen einen Begriff. –

Heute ist der Himmel bedeckt und regnerisch. Aber es scheint mir nicht, daß ich verdrießlich bin. Vom Sommer sagt man mir, daß bloß 4 Stunden des Tags wirklich heiß sind. Die Morgen und die Abende erfrischend. Man sieht mitten aus der Stadt heraus in die Schneewelt hinein: es scheint, daß man nichts zwischen sich hat, daß die Straßen direkt in die Alpen hineinlaufen. Der Herbst soll die schönste Zeit sein. Zuletzt muß ein Energie-gebendes Element hier in der Luft sein: wenn man hier heimisch ist, wird man König von Italien ...

Soviel, mein lieber alter Freund! Es grüßt Sie auf das herzlichste

Ihr N.
[1290]

Ich moralisiere so: Sie brauchen einen Ort, wo Sie das ganze Jahr leben können, aber unter anderen meteorologischen Einflüssen als in Venedig, vielleicht auch der Musik benachbarter, der Aufführbarkeit ... Und Italien sollten wir festhalten!!!!!!

Erzählen Sie mir noch ein wenig von Ihrem Quartett. Wohin es führt.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1289-1291.
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Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in 8 Bänden