233.
An Carl Fuchs

[1287] Turin, den 14. April 1888


Lieber und werter Herr Doktor, ich habe auch hier wie in Nizza Ihr Bild vor mir auf dem Tische: was wunders, wenn mich gar nicht selten die Lust ankommt, mit Ihnen zu reden? Und daß ich's tue? – Wozu, frage ich mich, diese absurde Entfremdung durch den Raum (durch jenen Raum, von dem die Philosophen sagen, er sei von uns erfunden –), diese Lücke zwischen den wenigen Menschen, die sich etwas zu sagen hätten! –

Kennen Sie Turin? Das ist eine Stadt nach meinem Herzen. Sogar die einzige. Ruhig, fast feierlich. Klassisches Land für Fuß und Auge (durch ein süperbes Pflaster und einen Farbenton von gelb und braun-rot,[1287] in dem alles eins wird). Ein Hauch gutes achtzehntes Jahrhundert. Paläste, wie sie uns zu Sinnen reden: nicht Renaissance-Burgen. Und daß man mitten in der Stadt die Schnee-Alpen sieht! Daß die Straßen schnurgerade in sie hineinzulaufen scheinen! Die Luft trocken, sublimklar. Ich glaubte nie, daß eine Stadt durch Licht so schön werden könnte.

Fünfzig Schritt von mir der palazzo Carignano (1670): mein grandioses Vis-à-Vis. Noch einmal fünfzig Schritt das teatro Carigiano, wo man gerade sehr achtungswürdig »Carmen« präsentiert. Man kann halbe Stunden in einem Atem durch hohe Bogengänge gehn. Hier ist alles frei und weit geraten, zumal die Plätze, so daß man mitten in der Stadt ein stolzes Gefühl von Freiheit hat.

Hierher habe ich mein Huckepack von Sorgen und Philosophie geschleppt. Bis zum Juni wird es gehn, ohne daß die Hitze mich quält. Die Nähe der Berge garantiert eine gewisse Energie, selbst Rauhigkeit. Dann kommt meine alte Sommerresidenz Sils-Maria an die Reihe: das Oberengadin, meine Landschaft, so fern vom Leben, so metaphysisch ... Und dann ein Monat Venedig: ein geweihter Ort für mein Gefühl, als Sitz (Gefängnis, wenn man will) des einzigen Musikers, der mir Musik macht, wie sie heute unmöglich erscheint: tief, sonnig, liebevoll, in vollkommener Freiheit unter dem Gesetz –

Irgendwo und irgendwann las ich, daß man nur in wenig Städten Deutschlands Schopenhauers Gedächtnis gefeiert habe. Man hob Danzig hervor. Dabei gedachte ich Ihrer.

Wie alles davonläuft! Wie alles auseinanderläuft! Wie still das Leben wird! Kein Mensch, der mich kennte, weit und breit. Meine Schwester in Südamerika. Briefe immer seltner. Und man ist noch nicht einmal alt!!!! Nur Philosoph! Nur abseits! Nur kompromittierend abseits! –

Ein curiosum: eben trifft ein Zeitungsblatt aus Dänemark ein Daraus lerne ich, daß an der Kopenhagener Universität ein Zyklus öffentlicher Vorlesungen »om den tüske filosof Friedrich Nietzsche« gehalten wird. Der Vortragende ist der Privatdozent Dr. Georg Brandes. –

Erzählen Sie mir ein wenig von Ihrem Schicksale, werter Freund! Wohin treibt jetzt das Schiff? Und warum liest man nicht Ihre gesammelten [1288] Critika? Ich hörte von niemandem lieber Werturteile de rebus musicis et musicantibus.

Treulich der Ihre Nietzsche

(Torino,ferma in posta)

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1287-1289.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in 8 Bänden