244.
An Carl Fuchs

[1306] Sils, Sonntag, den 29. Juli [1888]


Lieber Freund, inzwischen habe ich den Auftrag gegeben, daß Ihnen eines der wenigen Exemplare meines ineditum zugestellt wird: zum Zeichen, daß alles wieder zwischen uns in Ordnung ist und daß der farouche Augenblick einer allzuverwundbaren und allzuvereinsamten Seele überwunden ist. Der vierte Teil Zarathustra, von mir mit jener Scham vor dem »Publico« behandelt, welche in Hinsicht auf die drei ersten Teile nicht gewahrt zu haben mir bittere Reue macht ... Genauer ist es ein Zwischenakt zwischen dem Zarathustra und dem, was folgt (»Namen nennen dich nicht ...«). Der genauere Titel, der bezeichnender wäre:
[1306]


Die Versuchung Zarathustras
Ein Zwischenspiel

Herr C. G. Naumann hat sicherlich Ihnen inzwischen zu Gebote gestellt, was er von mir in Verlag hat; ich gab den Wink dazu. Was Herr Fritzsch getan hat, weiß ich nicht; ich kann im Augenblick nichts von ihm verlangen und erlangen – aus Gründen! –

Es hat sich mir ein wirklich intelligenter Musiker präsentiert, der Professor von Holten aus Hamburg, der mit großem Interesse Ihrer gedachte und mich zu einer Diskussion über die Riemannschen Prinzipien führte (– auch über andere Prinzipien: wir sind beide sehr antidécadence-Musiker, will sagen antimoderne Musiker). Er wünscht Ihnen übrigens dasselbe, was ich wünsche – einen freieren Wirkungskreis und nicht mehr Danzig.

Das Wetter ist äußerst ungleich und wechselt alle drei Stunden; meine Gesundheit wechselt mit ihm. Gestern kam ein Brief aus Bayreuth an mich an, aus vollem Parsifal heraus geschrieben. Ein mir unbekannter Wiener Verehrer, der mich seinen »Meister« nennt (oh!!!) und mich zu einer Art Großmuts-Akt gegen den Parsifal auffordert: – ich sollte großmütiger sein, als Siegfried gegen den alten Wanderer. Sprach übrigens im Namen von einem ganzen Kreise meiner »Jünger«, wie er sich ausdrückte, lauter für »Jenseits von Gut und Böse« sehr dankbaren »freien Geistern« ... (– ich hätte ihnen so viele große, tiefe, auch furchtbare Worte gesagt ...)

Von dem glänzenden Erfolge des Dr. Georg Brandes in Kopenhagen habe ich Ihnen wohl erzählt. Mehr als 300 Zuhörer für seinen längeren Zyklus über mich; am Schluß eine große Ovation. Er schreibt mir, daß mein Name jetzt in allen intelligenten Kreisen Kopenhagens populär und in ganz Skandinavien bekannt sei. Von New-York aus wurde mir ein englischer Essay über meine Schriften in Aussicht gestellt.

Wenn Sie je daran kommen sollten (– es fehlt Ihnen ja an Zeit dazu, werter Freund!!), über mich etwas zu schreiben, so haben Sie die Klugheit, die leider noch niemand gehabt hat, mich zu charakterisieren, zu »beschreiben« – nicht aber »abzuwerten«. Es gibt dies eine angenehme Neutralität: es scheint mir, daß man sein Pathos dabei beiseite lassen[1307] darf und die feinere Geistigkeit um so mehr in die Hände bekommt. Ich bin noch nie charakterisiert – weder als Psychologe, noch als Schriftsteller (»Dichter« eingerechnet), noch als Erfinder einer neuen Art Pessimismus (eines dionysischen, aus der Stärke geborenen, der sich das Vergnügen macht, das Problem des Daseins an seinen Hörnern zu packen), noch als Immoralist (– die bisher höchsterreichte Form der »intellektuellen Rechtschaffenheit«, welche die Moral als Illusion behandeln darf, nachdem sie selbst Instinkt und Unvermeidlichkeit geworden ist –). Es ist durchaus nicht nötig, nicht einmal erwünscht, Partei dabei für mich zu nehmen: im Gegenteil, eine Dosis Neugierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstande, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir. – Verzeihung! Ich schrieb eben einige Naivitäten – ein kleines Rezept, sich glücklich aus etwas Unmöglichem herauszuziehen ...

Mit freundlichstem Gruße Ihr N.


Die Fröhliche Wissenschaft »la gaya scienza« müssen Sie jedenfalls lesen: es ist mein mittelstes Buch – sehr viel feines Glück, sehr viel Halkyonismus ...

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1306-1308.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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