245.
An Franziska Nietzsche

[1308] Sils, 2. August 1888


Meine liebe Mutter, der zweite August! Aber wir sind nach wie vor in einem beständigen Regenwetter drin. Kalt, der Schnee recht nah, der Sommer beinahe zu Ende. Es scheint mir aber, daß meine Widerstandskraft dennoch zugenommen hat. Ich habe der Reihe nach vielerlei abmachen können, sogar ein kleines Manuskript (die erste Abschrift war, bei meiner großen Schwäche, so unleserlich geworden, daß Naumann sie zurückschickte; die zweite, aus den letzten 8 Tagen, sieht ganz anders aus. Daran sind nicht nur die guten Federn schuld).

Die Gesellschaft des Hotels ist nicht übel; und was es von distinguierteren Personen gibt, das sucht sich mir vorstellen zu lassen. So ein sehr angenehmer Staatsanwalt Dr. Schön aus Lübeck; ein alter Präsident aus Norddeutschland; jetzt eben wieder ein Prof. von Holten aus Hamburg; ein Kapellmeister vom Dresdener Hoftheater; und selbst die hübschen Mädchen machen mir ganz ersichtlich den Hof.[1308] Man hat den ungefähren Begriff, daß ich »ein Tier« bin. Der Koch kocht dies Jahr für mich mit besondrer Finesse. Briefe trafen ein, die zum Teil verrückt vor Enthusiasmus für meine Bücher waren: darunter einer mitten aus dem Bayreuther Parsifal heraus, im Namen eines ganzen Kreises von »Jüngern« aus Wien. Doch verhalte ich mich sehr kühl allen solchen jugendlichen Anstürmen gegenüber. Ich schreibe ganz und gar nicht für die gärende und unreife Altersklasse. –

Auch Frl. von Salis ist eingetroffen, ein wenig dünner und blässer noch als vorher. – Sils hat diese Woche seine neuen 3 Glocken aufgehängt, ich lobte heute noch den ausgezeichneten Gießer und Fabrikanten derselben, den ersten der Schweiz. Der Klang ist sehr schön.

Eben erfahre ich das schreckliche Elefanten-Ereignis von München.

Es donnert; es gießt in Strömen; ich bin heute morgen ganz naß geworden. Nachts fehlt es mir etwas an Schlaf. Das liegt wohl daran, daß das abscheuliche Wetter das Spazierengehn fast unmöglich macht. Mitunter laufe ich trotzdem im Regen hinaus.

Es grüßt und umarmt Dich Dein altes Geschöpf

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1308-1309.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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