247.
An Carl Fuchs

[1310] Sils, Sonntag [26. August 1888]


Lieber Freund, ein paar Tage Ruhe. Es gab auch ein paar Tage Krankheit. Doch soll es gehn – und es geht. Diesmal bin ich an der Reihe zu erzählen. – Zuerst von Dr. Brandes. Derselbe hat für mich[1310] nur getan, was er seit 30 Jahren für alle unabhängigen Geister Europas tut – er hat mich seinen Landsleuten vorgestellt. Was ich in meinem Falle hoch zu ehren habe, das ist, daß er da seinen leidenschaftlichen Widerwillen gegen alle jetzigen Deutschen überwunden hat. Eben hat er wieder, nach dem Besuch des Kaisers, in »einer wahren Teufels-Laune«, wie die Kölnische Zeitung sagt, seine Verachtung gegen alles Deutsche ausgedrückt. Nun, man gibt es ihm reichlich zurück. In den gelehrten Kreisen genießt er des allerschlechtesten Rufs: mit ihm in Beziehung zu stehn gilt als entehrend (Grund genug, für mich, so wie ich bin, der Geschichte von den Winter-Vorlesungen die allerweiteste Publizität zu geben). Er gehört zu jenen internationalen Juden, die einen wahren Teufels-Mut im Leibe haben, – er hat auch im Norden Feinde über Feinde. Er ist mehrsprachig, hat sein bestes Auditorium in Rußland, kennt die gute geistige Welt Englands und Frankreichs aufs persönlichste – und ist ein Psycholog (was ihm die deutschen Gelehrten nicht verzeihen ...). Sein großes Werk, mehrmals erschienen, »Die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts« ist immer noch das beste deutsch geschriebene Kulturbuch über dieses große Objekt. – Zur Musik steht er, wie er mir im Winter schrieb, zu seinem Bedauern in keinem Verhältnis. –

Vor 4 Tagen hat uns Herr von Holten verlassen. Wir sind alle betrübt. Eine solche Vereinigung von Liebenswürdigkeit und Bosheit ist ein ganz selten Ding. Ein alter Abbé, mit den Launen eines großen Schauspielers. Dabei eine ganz merkwürdige Erfindsamkeit im Wohltun, im Freudemachen – jedermann hat eine Geschichte davon zu erzählen. Er muß in der Tat in den glücklichsten Verhältnissen sein, ich meine nicht des Beutels sondern des Herzens, denn es verging kein Tag, wo er nicht etwas derart »verbrochen« hätte. – Für mich hatte er sich folgende Artigkeit ausgedacht: er hatte sich eine Komposition des einzigen Musikers, den ich heute gelten lasse, meines Freundes Peter Gast eingeübt und spielte sie mir privatissime sechsmal auswendig vor, entzückt über »das liebenswürdige und geistreiche Werk«. – In rebus musicis et musicantibus vertrugen wir uns zum besten, d.h. wir waren ohne jede Toleranz und sezierten den »Einäugigen« unter den Blinden ... Was Riemann betrifft, so haben wir ernst genug darüber gesprochen, doch auch im gleichen Sinn, nämlich daß eine »phrasierte«[1311] Ausgabe schlimmer ist, als jede andere – nämlich als eine bösartige Schulmeisterei. Was »unrichtig« ist, läßt sich in der Tat in zahllosen Fällen bestimmen; was richtig ist, fast nie. Die Illusion der »phraseurs« in diesem Punkte schien uns außerordentlich. Die Grundvoraussetzung, auf die sie bauen, daß es überhaupt eine richtige, d.h. eine richtige Auslegung gibt, scheint mir psychologisch und erfahrungsgemäß falsch. Der Komponist, im Zustande des Schaffens wie des Reproduzierens, sieht diese feinen Schatten in einem bloß labilen Gleichgewicht, – jeder Zufall, jede Erhöhung oder Ermattung des subjektiven Kraftgefühls faßt bald größere, bald notwendig engere Kreise als Einheiten zusammen. Kurz, der alte Philologe sagt, aus der ganzen philologischen Erfahrung heraus: es gibt keine alleinseligmachende Interpretation, weder für Dichter, noch für Musiker (ein Dichter ist absolut keine Autorität für den Sinn seiner Verse: man hat die wunderlichsten Beweise, wie flüssig und vag für sie der »Sinn« ist –).

Ein andrer Gesichtspunkt, über den wir sprachen (– es könnte sein, daß ich ihn auch schon einmal gegen Sie, lieber Freund, berührte, vor ein paar Jahren). Dieses Beseelen, Beleben der kleinsten Redeteile der Musik (– ich möchte, Sie und Riemann wendeten die Worte an, die jeder aus der Rhetorik kennt: Periode (Satz), Kolon, Komma, je nach der Größe, insgleichen Fragesatz, Konditionalsatz, Imperativ – denn die Phrasierungslehre ist schlechterdings das, was für Prosa und Poesie die Interpunktionslehre ist), – also: wir betrachteten diese Beseelung und Belebung der kleinsten Teile, wie sie in der Musik zur Praxis Wagners gehört und von da aus zu einem fast herrschenden Vortrags-System (selbst für Schauspieler und Sänger) geworden, mit verwandten Erscheinungen in anderen Künsten: es ist ein typisches Verfalls-Symptom, ein Beweis dafür, daß sich das Leben aus dem Ganzen zurückgezogen hat und im Kleinsten luxuriert. Die »Phrasierung« wäre demnach die Symptomatik eines Niedergangs der organisierenden Kraft: anders ausgedrückt: der Unfähigkeit, große Verhältnisse noch rhythmisch zu überspannen – eine Entartungsform des Rhythmischen ... Dies klingt beinahe paradox. Die ersten und leidenschaftlichsten Förderer der rhythmischen Präzision und Eindeutigkeit wären nicht nur Folge-erscheinungen der rhythmischen décadence, sondern auch deren stärkste und erfolgreichste Werkzeuge! In dem Maße, in dem sich das Auge für[1312] die rhythmische Einzelform (»Phrase«) einstellt, wird es myops für die weiten, langen, großen Formen: genau wie in der Architektur des Berninismus. Eine Veränderung der Optik des Musikers – die ist überall im Werke: nicht nur in der rhythmischen Überlebendigkeit des Kleinsten, unsere Genußfähigkeit begrenzt sich immer mehr auf die delikaten kleinen sublimen Dinge... folglich macht man nur auch noch solche – –

Moral: Sie sind mit Riemann ganz und gar auf dem »rechten Wege« – dem einzigen nämlich, den es noch gibt ...

Wir besprachen auch einen Punkt, der Sie besonders angeht. Von Holten meinte, mit solchen Phrasierungs-Konzerten, wie Sie sie veranstalten, werde absolut nichts erreicht. Es sei da die Illusion des Vortragenden vollkommen. Man höre eben gar nicht, inwiefern der Vortrag von jedem früher gehörten abweiche: selbst dem professionellen Klavierspieler sei durchaus nicht mit der wünschenswerten Deutlichkeit (einzelne Fälle, wie billig, ausgenommen) die von ihm gewohnte und festgehaltne Interpretation dergestalt Bewußtseins-Sache, um in jedem Augenblick eine Verschiedenheit zu spüren. Solche Konzerte überzeugten absolut von nichts, weil sie gar keinen Unterschied zum Bewußtsein brächten. Ein anderes sei es, natürlich auch nur in Hinsicht auf ganz raffinierte Musiker, verschiedene Vortrags-Arten dicht hintereinander zu stellen; was er leugne, sei, daß die Evidenz des Richtigen sich damit beweisen lasse. Sie möchten nur abstimmen lassen ...

Alles, was Sie mir schreiben, bestärkt mich in dem Wunsche, daß Danzig delenda est, – Bonn: das klingt viel heiterer ... Ich nehme im stillen an, daß daselbst noch als Kapellmeister der gutartige Schumannianer Brambach fungiert (– ich habe unter ihm mit in Köln in dem großen Gürzenich-Musikfeste gesungen – z.B. Schumanns Faust –). Es lebt viel gute Welt daselbst, auch Ausländerinnen. Die klimatische Differenz ist unbeschreiblich günstig ... Die gesamte Welt-Färbung verändert sich am Rhein im »lieben Gemüt« – crede experto –. Zuletzt gibt es wirklich ein rheinisches Musik-Leben. – Sie haben einmal in Naumburg meinen Freund Krug gesehn: derselbe, jetzt ein großes Tier, das 80 Angestellte unter sich hat, Justizrat und Direktor der links-rheinischen Eisenbahn, Sitz Köln, hat ganz vor kurzem in Köln[1313] einen Wagner-Verein großen Stils ins Leben gerufen: er ist dessen Präsident. –

Mit vielen herzlichen Wünschen und für alles Nicht-Willkommne dieses Briefs um Verzeihung bittend

Ihr ergebenster Nietzsche


NB. bis 14. September Sils. Am 15. Abreise – –

– Sie haben hoffentlich mein »literarisches Rezept« nicht ernst genommen?? – Ich mache in puncto »Publizität« und »Ruhm« nichts als Bosheiten. – Einige werden posthum geboren. –

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1310-1314.
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