248.
An Carl Fuchs

[1314] [Ende August 1888]


Zur Auseinanderhaltung der antiken Rhythmik (»Zeit-Rhythmik«) von der barbarischen (»Affekt-Rhythmik«)


1. Daß es außer dem Wortakzent noch einen andern Akzent gegeben habe, dafür fehlt bei den Rhythmikern (zum Beispiel Aristoxenos) jedes Zeugnis, jede Definition, selbst ein dazugehöriges Wort. – Arsis und Thesis wird erst seit Bentley in dem fälschlichen Sinne der modernen Rhythmik verstanden, – die Definitionen, die die Alten von diesen Worten geben, sind völlig unzweideutig.

2. Man warf, in Athen sowohl wie in Rom, den Rednern, selbst den berühmtesten, vor, Verse unversehens gesprochen zu haben. Es werden zahlreiche Beispiele solcher entschlüpften Verse zitiert. Der Vorwurf ist, nach unsrer üblichen Art, griechische und lateinische Verse zu sprechen, einfach unbegreiflich (– erst der rhythmische Ictus macht bei uns aus einer Abfolge von Silben einen Vers: aber gerade das ganz gewöhnliche Sprechen enthielt, nach antikem Urteil, sehr leicht vollkommene Verse –).

3. Nach ausdrücklichen Zeugnissen war es nicht möglich, den Rhythmus von gesprochenen lyrischen Versen zu hören, wenn nicht mit Taktschlägen die größeren Zeit-Einheiten dem Gefühle zum Bewußtsein gebracht wurden. Solange der Tanz begleitete (– und die antike Rhythmik ist nicht aus der Musik, sondern aus dem Tanz her gewachsen), sah man die rhythmischen Einheiten mit Augen.

4. Es gibt Fälle bei Homer, wo eine kurze Silbe ungewöhnlicherweise den Anfang eines Daktylus macht. Man nimmt philologischerseits[1314] an, daß in solchen Fällen der rhythmische Ictus die Kraft habe, den Zeit-Mangel auszugleichen. Bei den antiken Philologen, den großen Alexandrinern, die ich eigens auf diesen Punkt hin befragt habe, findet sich nicht die leiseste Spur einer solchen Rechtfertigung der kurzen Silbe (dagegen fünf andere).

5. Es tritt sowohl auf griechischem als auf lateinischem Boden ein Zeitpunkt ein, wo die nordischen Lied-Rhythmen Herr werden über die antiken rhythmischen Instinkte. Unschätzbares Material dafür in dem Hauptwerk über christlich-griechische Hymnologie (aus einem süd-französischen gelehrten Kloster hervorgegangen). Von dem Augenblick an, wo unsre Art rhythmischer Akzent in den antiken Vers eindringt, ist jedesmal die Sprache verloren: sofort geht der Wortakzent und die Unterscheidung von langen und kurzen Silben flöten. Es ist ein Schritt in die Bildung barbarisierender Idiome.

6. Endlich die Hauptsache. Die beiden Arten der Rhythmik sind konträr in der ursprünglichsten Absicht und Herkunft. Unsere barbarische (oder germanische) Rhythmik versteht unter Rhythmus die Aufeinanderfolge von gleich starken Affekt-Steigerungen, getrennt durch Senkungen. Das gibt unsere älteste Form der Poesie: drei Silben, jede einen Hauptbegriff ausdrückend, drei bedeutungsvolle Schläge gleichsam an das Sensorium des Affekts – das bildet unser ältestes Versmaß. (In unsrer Sprache hat im Durchschnitt die bedeutungsschwerste Silbe, die affekt-dominierende Silbe den Akzent, grundverschieden von den antiken Sprachen.) Unser Rhythmus ist ein Ausdrucksmittel des Affekts: der antike Rhythmus, der Zeit-Rhythmus, hat umgekehrt die Aufgabe, den Affekt zu beherrschen und bis zu einem gewissen Grade zu eliminieren. Der Vortrag des antiken Rhapsoden war extrem leidenschaftlich (– man findet im Ion Platons eine starke Schilderung der Gebärden, der Tränen usw.): das Zeit-Gleichmaß wurde wie eine Art Öl auf den Wogen empfunden. Rhythmus im antiken Verstande ist, moralisch und ästhetisch, der Zügel, der der Leidenschaft angelegt wird.

In summa: unsre Art Rhythmik gehört in die Pathologie, die antike zum »Ethos« ...

Herrn Dr. Carl Fuchs zur freundlichen Erwägung anheimgegeben.

F. N.[1315]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1314-1316.
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