257.
An Georg Brandes

[1325] Turin, den 20. Oktober 1888


Werter und lieber Herr, wiederum kam ein angenehmer Wind von Norden mit Ihrem Briefe: zuletzt war es bisher der einzige Brief, der ein »gutes Gesicht«, der überhaupt ein Gesicht zu meinem Attentat auf Wagner machte. Denn man schreibt mir nicht. Ich habe selbst bei Näheren und Nächsten einen heillosen Schrecken hervorgebracht. Da ist zum Beispiel mein alter Freund Baron Seydlitz in München unglücklicherweise gerade Präsident des Münchener Wagner-Vereins; mein noch älterer Freund, der Justizrat Krug in Köln, Präsident des dortigen Wagner-Vereins; mein Schwager Dr. Bernhard Förster in Südamerika, der nicht unbekannte Antisemit, einer der eifrigsten Mitarbeiter der Bayreuther Blätter – und meine verehrungswürdige Freundin Malwida von Meysenbug, die Verfasserin der Memoiren einer Idealistin, verwechselt nach wie vor Wagner mit Michelangelo ...

Andererseits hat man mir zu verstehen gegeben, ich solle auf der Hut sein vor der Wagnerianerin: die hätte in gewissen Fällen keine Skrupel. Vielleicht wehrt man sich, von Bayreuth aus, auf reichsdeutsche Manier, durch Interdiktion meiner Schrift – als »der öffentlichen Sittlichkeit gefährlich« ... Man könnte selbst meinen Satz »wir kennen alle den unästhetischen Begriff des christlichen Junkers« als Majestäts-Beleidigung verstehen. – – –

Ihre Intervention zu Ehren der Witwe Bizets hat mir großes Vergnügen gemacht. Bitte geben Sie mir ihre Adresse; insgleichen die des Fürsten Urussow. Ein Exemplar ist an Ihre Freundin, die Fürstin Dmitrievna Ténicheff abgesandt. – Bei meiner nächsten Veröffentlichung, die nicht gar zu lange mehr auf sich warten lassen wird (– der Titel ist jetzt »Götzendämmerung. Oder: Wie man mit dem Hammer philosophiert«), möchte ich sehr gern auch an den von Ihnen mit so ehrenden Worten mir vorgestellten Schweden ein Exemplar senden.[1325] Nur weiß ich seinen Wohnort nicht. – Diese Schrift ist meine Philosophie in nuce – radikal bis zum Verbrechen ...

– Über die Wirkung des »Tristan« hätte auch ich Wunder zu berichten. Eine richtige Dosis Seelen-Qual scheint mir ein ausgezeichnetes Tonikum vor einer Wagnerschen Mahlzeit. Der Reichsgerichtsrat Dr. Wiener in Leipzig gab mir zu verstehen, auch eine Karlsbader Kur diene dazu ...

– Ach was Sie arbeitsam sind! Und ich Idiot, der ich nicht einmal Dänisch verstehe! – Daß man gerade »in Rußland wieder aufleben« kann, glaube ich Ihnen vollkommen; ich rechne irgendein russisches Buch, vor allem Dostojewskij (französisch übersetzt, um des Himmels willen nicht deutsch!!) zu meinen größten Erleichterungen.

Von Herzen und mit einem Recht, dankbar zu sein

Ihr Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1325-1326.
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Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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