256.
An Franz Overbeck

[1323] Turin, den 18. Okt. 1888


Lieber Freund, ich machte gestern, mit Deinem Brief in der Hand, meinen gewohnten Nachmittags-Spaziergang außerhalb Turins. Reinstes Oktoberlicht überall; der herrliche Baumweg, der mich ungefähr eine Stunde dicht am Po entlang führte, vom Herbste noch kaum berührt. Ich bin jetzt der dankbarste Mensch von der Welt – herbstlich gesinnt in jedem guten Sinne des Wortes: es ist meine große Erntezeit. Alles wird mir leicht, alles gerät mir, obwohl schwerlich schon jemand so große Dinge unter den Händen gehabt hat. Daß das erste Buch der Umwertung aller Werte fertig ist, druckfertig, das melde ich Dir mit einem Gefühle, für das ich kein Wort habe. Es werden vier Bücher; sie erscheinen einzeln. Diesmal führe ich, als alter Artillerist, mein großes Geschütz vor: ich fürchte, ich schieße die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften auseinander. – Mit jener Schrift, über die ich im letzten Brief eine Andeutung machte, sind wir bald am Ende: es ist, um mir möglichst wenig Zeit von meiner jetzt ganz unschätzbaren Zeit zu nehmen, mit ausgezeichneter Präzision gedruckt worden. Dein Zitat aus »Menschl. Allzumenschl.« kam vollkommen zur rechten Zeit, um eingetragen zu werden. – Diese Schrift ist bereits eine hundertfache Kriegserklärung, mit einem fernen Donner im Gebirge; im Vordergrund viel »Lustiges«, von der Art meiner bedingten Lustigkeit1 ... Man kann sich zum Erstaunen leicht mit dieser Schrift über meinen Grad von Heterodoxie unterrichten, die in der Tat keinen Stein auf dem andern läßt. Gegen die Deutschen gehe ich darin in ganzer Front vor: Du wirst Dich nicht über »Zweideutigkeit«[1323] zu beklagen haben. Diese unverantwortliche Rasse, die alle großen Malheurs der Kultur auf dem Gewissen hat und in allen entscheidenden Momenten der Geschichte etwas »andres« im Kopfe hatte (– die Reformation zur Zeit der Renaissance; Kantische Philosophie, als eben eine wissenschaftliche Denkweise in England und Frankreich mit Mühe erreicht war; »Freiheits-Kriege« beim Erscheinen Napoleons, des einzigen, der bisher stark genug war, aus Europa eine politische und wirtschaftliche Einheit zu bilden –) hat heute »das Reich«, diese Rekrudeszenz der Kleinstaaterei und des Kultur-Atomismus, im Kopfe, in einem Augenblicke, wo die große Wertfrage zum erstenmal gestellt wird. Es gab nie einen wichtigeren Augenblick in der Geschichte: aber wer wüßte etwas davon? Das Mißverhältnis, das hier zutage tritt, ist vollkommen notwendig: im Augenblick, wo eine noch nie geahnte Höhe und Freiheit der geistigen Leidenschaft Besitz ergreift von dem höchsten Probleme der Menschheit und für deren Schicksal die Entscheidung heraufbeschwört, muß sich die allgemeine Kleinheit und Stumpfheit um so schärfer dagegen abheben. Gegen mich gibt es durchaus noch keine »Feindschaft«: man hat einfach keine Ohren für irgend etwas von mir, folglich weder ein Für, noch ein Wider ....

Lieber Freund, lege, wenn ich bitten darf, auch noch die 500 frs., von denen Du schreibst, bei der Handwerkerbank nieder. Ich muß jetzt mit aller Kraft Ökonomie machen, um den außerordentlichen Druckkosten der nächsten drei Jahre gewachsen zu sein. (Ich nehme also an, daß die am 1. Oktober fällig gewordenen 1000 frs. jetzt ganz daselbst deponiert sind.) Ende Dezember werde ich dann freilich die 500 frs. sehr dringend nötig haben. Mein Plan ist, bis zum 20. November hier auszuhalten (– ein etwas frostiges Vorhaben, da der Winter früh kommt!). Dann will ich nach Nizza und daselbst, mit vollkommenem Bruch aller bisherigen usances, mir die Existenz herstellen, die ich jetzt brauche. Ich habe bisweilen auch an Bastia auf Korsika gedacht: doch fürchte ich mich, mitten in der tiefen Selbstbesinnung, die mir not tut, vor dem Experiment und seinen Gefahren.

Herr Köselitz ist nach Berlin übergesiedelt: seine Briefe atmen die allerbeste Seelenverfassung, die man auf Erden wünschen kann. Auch [1324] geschieht etwas für ihn: darüber einmal später. Adresse: Berlin SW. Lindenstraße 116 IV 1.

Es grüßt Dich und Deine liebe Frau auf das dankbarste

Dein Nietzsche

1

Inmitten der ungeheuren Spannung dieser Zeit war ein Duell mit Wagner für mich eine vollkommene Erholung: auch tut es not, jetzt, wo ich in offenem Krieg auftrete, einmal öffentlich zu beweisen, daß ich »das Handgelenk frei habe« ...

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1325.
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Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in 8 Bänden