264.
An Peter Gast

[1335] Turin, 2. Dez. 88


Sonntag nachmittag, nach 4 Uhr, unbändig schöner Herbsttag. Eben zurückgekommen von einem großen Konzert, das im Grunde der stärkste Konzert-Eindruck meines Lebens ist, – mein Gesicht machte fortwährend Grimassen, um über ein extremes Vergnügen hinwegzukommen, eingerechnet, für 10 Minuten die Grimasse der Tränen. Ach, daß Sie nicht dabei waren! Im Grunde war's die Lektion von der Operette auf die Musik übertragen. Unsre 90 ersten Musiker der Stadt; ein ausgezeichneter Dirigent; das größte Theater von hier mit herrlicher Akustik; 2500 Zuhörer, alles, ohne Ausnahme, was hier in Musik mitlebt und mitredet. Publico sceltissimo, aufrichtig: ich hatte nirgendswo noch das Gefühl, daß dermaßen nuances verstanden wurden. Es waren lauter extrem raffinierte Sachen, und ich suche vergebens nach einem intelligenteren Enthusiasmus. Nicht ein Zugeständnis an einen Durchschnittsgeschmack. – Anfang Egmont-Ouverture – sehen Sie, dabei dachte ich nur an Herrn Peter Gast ... Darauf Schuberts Ungarischer Marsch, prachtvoll von Liszt auseinandergelegt und instrumentiert. Ungeheurer Erfolg, da capo. – Darauf etwas für das ganze Streichorchester allein: nach dem vierten Takte war ich in Tränen. Eine vollkommen himmlische und tiefe Inspiration, von wem? von einem Musiker, der 1870 in Turin starb. Rossaro – ich[1335] schwöre Ihnen zu, Musik allerersten Ranges, von einer Güte der Form und des Herzens, die meinen ganzen Begriff vom Italiener verändert. Kein sentimentaler Augenblick – ich weiß nicht mehr, was »große« Namen sind ... Vielleicht bleibt das Beste unbekannt. – Folgte: Sakuntala-Overture, achtmaliger Beifallssturm. Alle Teufel, dieser Goldmark! Das hatte ich ihm nicht zugetraut. Diese Ouverture ist hundertmal besser gebaut, als irgend etwas von Wagner und psychologisch so verfänglich, so raffiniert, daß ich wieder die Luft von Paris zu atmen begann. Instrumental durchdacht und ausgerechnet, lauter Filigran. – Jetzt wieder etwas für Streichorchester allein »Cyprisches Lied« von Vilbac, wieder das äußerste von Delikatesse der Erfindung und der Klangwirkung, wieder ungeheurer Erfolg und da capo, obschon ein langer Satz. – Endlich: »Patrie«! Ouverture von Bizet. Was wir gebildet sind! Er war 35 Jahr, als er dies Werk, ein langes, sehr dramatisches Werk, schrieb: Sie sollten hören, wie der kleine Mann heroisch wird ...

Ecco! Kann man sich besser ernähren lassen? Und ich habe 1 fr. Eintritt gezahlt ...

Heute Abend »Francesca da Rimini« im Carignano: ich legte dem letzten Brief einen Bericht darüber bei. Der Komponist Cagnoni wird zugegen sein.

Es scheint mir nachgerade, daß Turin auch im Musik-Urteil, wie sonst, die solideste Stadt ist, die ich kenne.

Ihr Freund N.


Druckbogen werden jetzt wohl noch ausbleiben: ich habe gestern das ganze Manuskript noch einmal zurückverlangt.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1335-1336.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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