265.
An August Strindberg

[1336] Turin, den 7. Dezember 1888


Sehr lieber und werter Herr! Ist ein Brief von mir verlorengegangen? Ich habe sofort nach der zweiten Lektüre des Père Ihnen geschrieben, tief ergriffen von diesem Meisterstück harter Psychologie; ich habe insgleichen Ihnen die Überzeugung ausgedrückt, daß Ihr Werk prädestiniert ist, jetzt in Paris aufgeführt zu werden, im Théatre libre des Mr. Antoine, – Sie sollten das von Zola einfach fordern! –

– Der hereditäre Verbrecher ist décadent, selbst Idiot – kein Zweifel![1336] Aber die Geschichte der Verbrecherfamilien, für die der Engländer Galton (»the hereditary genius«) das größte Material gesammelt hat, führt immer auf einen zu starken Menschen für ein gewisses soziales Niveau zurück. Der letzte große Pariser Kriminalfall Prado gab den klassischen Typus: Prado war seinen Richtern, seinen Advokaten selbst durch Selbstbeherrschung, Esprit und Übermut überlegen; trotzdem hatte ihn der Druck der Anklage physiologisch schon so heruntergebracht, daß einige Zeugen ihn erst nach den alten Porträts wiedererkannten. –

Jetzt aber fünf Worte unter uns, sehr unter uns! Als gestern mich Ihr Brief erreichte – der erste Brief in meinem Leben, der mich erreicht hat –, war ich gerade mit der letzten Manuskriptrevision von »Ecce homo« fertig geworden. Da es in meinem Leben keinen Zufall mehr gibt, so sind Sie folglich auch kein Zufall. Warum schreiben Sie Briefe, die in einem solchen Augenblick eintreffen! – –

»Ecce homo« soll in der Tat deutsch, französisch und englisch zugleich erscheinen. Ich habe gestern das Manuskript noch an meinen Drucker geschickt; sobald ein Bogen fertig wird, muß er in die Hände der Herren Übersetzer. Wer sind diese Übersetzer? Aufrichtig, ich wußte nicht, daß Sie selber für das ausgezeichnete Französisch Ihres Père verantwortlich sind; ich glaubte an eine meisterhafte Übersetzung. Für den Fall, daß Sie selbst die französische Übersetzung in die Hund nehmen wollten, wüßte ich mich nicht glücklich genug zu schätzen über dies Wunder eines sinnreichen Zufalls. Denn, unter uns, meinen »Ecce homo« zu übersetzen, bedarf es eines Dichters ersten Ranges; es ist im Ausdruck, im Raffinement des Gefühls, tausend Meilen jenseits aller bloßen »Übersetzer«. Zuletzt ist es kein dickes Buch; ich nehme an, es wird in der franz. Ausgabe (vielleicht bei Lemerre, dem Verleger Paul Bourgets!) gerade einen solchen für 3 frs. 50 machen. Da es vollkommen unerhörte Dinge sagt und mitunter, in aller Unschuld, die Sprache eines Weltregierenden redet, so übertreffen wir durch Zahl der Auflagen selbst Nana.

Andererseits ist es antideutsch bis zur Vernichtung; die Partei der französischen Kultur wird durch die ganze Geschichte hindurch festgehalten (– ich behandele die deutschen Philosophen allesamt als »unbewußte Falschmünzer« –). Auch ist das Buch nicht langweilig,[1337] – ich habe es mitunter selbst im Stil »Prado« geschrieben. – – Um mich gegen deutsche Brutalitäten (»Konfiskation«) sicher zu stellen, werde ich die ersten Exemplare, vor der Publikation, dem Fürsten Bismarck und dem jungen Kaiser mit einer brieflichen Kriegserklärung übersenden: darauf dürfen Militärs nicht mit Polizeimaßregeln antworten. – Ich bin ein Psychologe. – – –

– Erwägen Sie, verehrter Herr! Es ist eine Sache allerersten Ranges. Denn ich bin stark genug dazu, die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke zu zerbrechen. –

Bliebe die Frage der englischen Übersetzung. Wüßten Sie einen Vorschlag dafür? – Ein antideutsches Buch in England ...

Sehr ergeben

Ihr Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1336-1338.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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