266.
An Peter Gast

[1338] Sonntag, den 9. Dez. 1888,

via Carlo Alberto 6III


Lieber Freund, ich war eben im Begriff, Ihnen zu schreiben, da trat Ihr Brief festlich zur Tür herein, leider nicht in Begleitung des »Kunstwart«. Doch wird es sich nur um Stunden handeln. – Ihre herrlichen Neuigkeiten in puncto »Provence« erquicken mich wie wenige Dinge mich erquicken könnten; denn da es mir gut geht, ist es eigentlich billig, daß es meinen »Nächsten« noch besser geht. Der erste Schritt, hier wie überall, ist der schwerste – und über den helfen nur die Weiblein hinweg ...

Auch ich habe Gutes zu melden. Das »Ecce homo« ist vorgestern an C. G. Naumann abgegangen, nachdem ich es, zur letzten Gewissens-Beruhigung, noch einmal vom ersten bis zum letzten Wort auf die Goldwaage gelegt habe. Es geht dermaßen über den Begriff »Literatur« hinaus, daß eigentlich selbst in der Natur das Gleichnis fehlt: es sprengt, wörtlich, die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke – höchster Superlativ von Dynamit ...

Strindberg hat mir vorgestern seinen ersten Brief geschrieben – es war der erste Brief mit einem welthistorischen Akzent, der mich erreichte. Er hat den Begriff davon, daß Zarathustra ein Non plus ultra ist. Zugleich traf noch ein Brief aus St. Petersburg ein, von einer der[1338] allerersten Frauen Rußlands, beinahe eine Liebeserklärung, jedenfalls ein kurioses Stück Brief: Madame la Princesse Anna Dmitrievna Ténicheff. Auch der intelligenteste Kopf der Petersburger Gesellschaft, der alte Fürst Urussow soll sich stark für mich interessieren. Georg Brandes hält diesen Winter wieder Vorlesungen in diesen Kreisen und wird ihnen Wunderdinge berichten. Ich sagte wohl, daß Strindberg und Brandes befreundet sind, daß beide in Kopenhagen leben? – Strindberg hält mich übrigens für den größten Psychologen des Weibes ... Ecco, Malvida!!!

Gestern habe ich die »Götzen-Dämmerung« an Mr. Taine geschickt, mit einem Brief, worin ich ihn bitte, für eine französische Übersetzung des Werks sich zu interessieren. Auch für die englische Übersetzung habe ich einen Gedanken: Miß Helen Zimmern, die jetzt in Genf, im nächsten Verkehr mit meinen Freundinnen Fynn und Mansouroff lebt. Sie kennt auch Georg Brandes (– sie hat Schopenhauer den Engländern entdeckt: warum nicht erst recht dessen Antipoden? ...)

Mit E. W. Fritzsch bin ich noch nicht weiter; doch hoffe ich, mit einiger Geduld, daß der Preis noch ein paar tausend Mark heruntergeht. Wenn ich meine ganze Literatur für 8000 Mark zurückerwerbe, so habe ich das Geschäft gemacht. – Naumann berät mich in dieser Sache.

Machen Sie doch meinem alten Freund Professor Paul Deussen möglichst schnell einen Besuch (Berlin W., Kurfürstendamm 142). Sie können ihm einmal gründlich sagen, was ich bin und was ich kann. Er ist mir übrigens sehr zugetan und auf jene Weise, die auf Erden die seltenste ist: er hat mir diesen Sommer, zum Zweck meiner Druckkosten, 2000 Mark zugestellt (– zu gleichem Zweck, hören Sie!, Frl. Meta von Salis 1000 frs.!! –). Unter uns, ich beschwöre Sie!

Jetzt eine ernste Sache. Lieber Freund, ich will alle Exemplare des vierten Zarathustra wieder zurückhaben, um dies ineditum gegen alle Zufälle von Leben und Tod sicherzustellen (– ich las es dieser Tage und bin fast umgekommen vor Bewegung). Wenn ich es nach ein paar Jahrzehnten welthistorischer Krisen – Kriege! – herausgeben werde, so wird es erst die rechte Zeit sein. Strengen Sie, bitte. Ihr Gedächtnis an, wer Exemplare hat. Meine Erinnerung gibt: Lanzky, Widemann, Fuchs, Brandes, wahrscheinlich Overbeck. Haben Sie[1339] die Adresse von Widemann? – Wie viel Exemplare waren es? wieviel haben wir noch? – Ein paar mögen in Naumburg sein.

Wetter, nach wie vor, unvergleichlich. Drei Kasten Bücher aus Nizza eingetroffen. – Ich blättre seit einigen Tagen in meiner Literatur, der ich jetzt zum erstenmale mich gewachsen fühle. Verstehen Sie das? Ich habe alles sehr gut gemacht, aber nie einen Begriff davon gehabt – im Gegenteil! ... Zum Beispiel die diversen Vorreden, das fünfte Buch »gaya scienza« – Teufel, was steckt da drin! – Über die dritte und vierte Unzeitgemäße werden Sie in Ecce homo eine Entdeckung lesen, daß Ihnen die Haare zu Berge stehn – mir standen sie auch zu Berge. Beide reden nur von mir, anticipando ... Weder Wagner, noch Schopenhauer kamen psychologisch drin vor ... Ich habe beide Schriften erst seit 14 Tagen verstanden.

Zeichen und Wunder!

Es grüßt Sie der

Phönix


Menschliches, Allzumenschliches hat mir im höchsten Grade imponiert: es hat etwas von der Ruhe eines Grand-Seigneur.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1338-1340.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in 8 Bänden